Mittwoch 22.09
Eröffnung der Tagung 13:00 - 13:15 h
Parallel Sessions 1 13:15 - 14:45 h
Sexual- und Gewaltdelikte
Brendah Nakyazze: Victimization from intimate partner rape in Uganda: Sex differences, psychological concomitants, and the effect of educational level
Objective:The aim of the study was to investigate victimization from intimate partner rape (IPR) in Uganda among both women and men, the effect of educational level, and psychological concomitants. Method:A questionnaire was completed by 609 females and 420 males in Uganda. The mean age was 31.5 (SD 10.9) for females and 34.4 (SD 11.3) for males. Results:Females reported significantly higher frequencies of victimization from IPR than males. Respondents with no education reported significantly higher frequencies of victimization than others. Respondents who had been more than average victimized from IPR scored significantly higher on depression and anxiety and had significantly lower self-esteem than others. Females who had been victimized more than average scored significantly lower on self-esteem than the other groups. Conclusions:Not only females but also males were found to have been victimized from IPR. Victimization was linked to increased levels of negative psychological concomitants in both females and males.
Joseph Birke: Aggressive Sexualfantasien als Risikofaktor für sexuelle Nötigung: Replikation und Weiterentwicklung eines Ätiologie-Modells
Verschiedene Risikofaktoren wie Missbrauch in der Kindheit, Psychopathie, aggressives Verhalten oder aggressive Sexualfantasien begünstigen sexuelles Nötigungsverhalten. Knight und Sims-Knight (2003, 2004) entwickelten ein Modell zur Erklärung der Ätiologie von sexueller Nötigung bei Männern. Sie replizierten es in zwei Stichproben aus den USA, bestehend aus N=218 männlichen jugendlichen Sexualstraftätern und N=168 Männern aus der Normalbevölkerung. Seitdem fehlten jedoch Versuche, das Modell in größeren Stichproben aus verschiedenen Ländern zu replizieren. Anhand einer Teilstichprobe aus dem finnischen Genetics of Sexuality and Aggression (GSA)-Projekt, bestehend aus N=3331 Männern (M_Alter=26.17 Jahre, SD=4.76), replizierten wir das Modell erneut. Das latente Strukturgleichungsmodell zeigte sehr ähnliche Effekte wie die vorherigen. Aggressive Sexualfantasien und eine antisoziale/aggressive Persönlichkeit sagten sexuelle Nötigung voraus. Aggressive Sexualfantasien wiederum wurden durch Hypersexualität sowie eine gefühllose/unemotionale Persönlichkeit vorhergesagt. Diese Effekte blieben stabil, wenn wir weitere etablierte Risikofaktoren für sexuelle Aggression, wie verzerrte Wahrnehmungen, die selbstberichtete Vergewaltigungsneigung, Alkohol- sowie Gewaltpornografiekonsum, wie von den Autoren des ursprünglichen Modells vorgeschlagen, integrierten. In Übereinstimmung mit neueren Erkenntnissen verdeutlichen diese Ergebnisse die Bedeutung aggressiver Sexualfantasien für die Ätiologie sexueller Aggression und zeigen Faktoren auf, die zur Entwicklung aggressiver Sexualfantasien beitragen.
Kotryna Stupnianek: Aggressive Fantasies: Frequency, Preoccupation, Elaboration, and Controllability as Predictors of Aggressive Behavior
Aggressive fantasies are an important predictor of aggressive behavior: The more frequently individuals engage in aggressive fantasizing the more likely they behave aggressively. However, frequency may not be the only characteristic of aggressive fantasizing that may be an important aspect in predicting aggressive behavior. But little to no research has examined the potential role of frequency and elaboration of, preoccupation with, and the perceived inability to control aggressive fantasies in predicting aggressive behavior. The current study aimed to fill this gap. We conducted an cross-sectional online study. Our sample included 520 participants (75.8% females) from 18 to 79 years of age (M = 30.11, SD = 12.07). We measured the frequency of, preoccupation with, elaboration of, and self-perceived controllability of aggressive fantasies; aggressive behavior; and some control variables that are also pertinent predictors of aggressive behavior, such as gender, trait anger, and the psychopathy traits of thrill-seeking and remorselessness. Preliminary analyses showed that the preoccupation with, elaboration of, and perceived incontrollability of aggressive fantasies were positive predictors of aggressive behavior, but when their frequency was included into the model, only elaboration and perceived incontrollability remained small, but significant predictors. Overall, the frequency of aggressive fantasies was the strongest predictor of aggressive behavior (β = .26, p < .001), over and above all control variables, preoccupation, elaboration, and perceived incontrollability of aggressive fantasies. Hence, frequency is the most important aspect of aggressive fantasizing and interventions should primarily aim at reducing it. Further results and implications for future research will be discussed.
Michaela Pfundmair: Der Teufelshörnereffekt bei Sexualstraftaten
Die frühere Forschung identifizierte verschiedene Stereotype über Sexualstraftaten, speziell im Hinblick auf sexuellen Kindesmissbrauch und Vergewaltigung. Es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass diese Stereotype auf einem Teufelshörnereffekt basieren, also der Urteilsverzerrung, dass ein einzelnes bekanntes negatives Merkmal auf die Bewertung weiterer, unbekannter Merkmale abfärbt. In der vorliegenden Studienreihe nahmen wir daher an, dass Wortpaare, die das Schlüsselwort „Sex“ umfassen, ein Schema aktivieren, das infolge die Bewertung eines Kriminalfalls negativ beeinflusst. Zur Untersuchung dieser Hypothese wurden drei Studien durchgeführt: Um ein grundsätzliches Verständnis für diesen Effekt zu erlangen, wurde in Studie 1 im Rahmen eines qualitativen Ansatzes ein Gruppenfokusinterview (n = 7) durchgeführt. In den Studien 2 (n = 62) und 3 (n = 236) wurde die Hypothese im Rahmen eines quantitativen Ansatzes getestet. Dabei wurden die Probanden jeweils mit speziellen Wortpaaren konfrontiert und gebeten, Angaben zu ihren Vorstellungen über Täter, Taten und Bestrafungen zu machen. Es zeigte sich, dass die kombinierten Schlüsselwörter „Sex und Kinder“ stark negative Vorstellungen induzierten, die gewaltsame Taten, pädophile Täter und ein Bedürfnis nach harten Bestrafungen umfassten. Die kombinierten Schlüsselwörter „Sex und Gewalt“ aktivierten ausgeglichenere Ideen möglicher Taten, jedoch äußert negative Vorstellungen von Tätern und Strafen. Im Gegensatz zu diesen drastischen Vorstellungen induzierten die kombinierten Schlüsselwörter „Kinder und Gewalt“, die als Kontrollbedingung fungierten, heterogenere Antworten. Insgesamt bestätigen die Befunde die Annahme eines Teufelshörnereffekts bei Sexualstraftaten. Ein solcher Effekt könnte Auswirkungen auf die Justiz haben, da er sowohl bei Richtern und Schöffen als auch in der öffentlichen Meinung wirken und somit Gerichtsverfahren beeinflussen könnte.
Paula Krüger: Mehr innerfamiliäre Gewalt in Zeiten der Pandemie? Erste Befunde einer Langzeitstudie aus der Schweiz
Die Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben insbesondere während der Lockdowns zu einer verstärkten Konzentration auf den familiären Bereich geführt. Aus diesem Grund wurden von verschiedenen Seiten bereits zu Beginn der Pandemie zunehmende innerfamiliäre Spannungen und Gewalt befürchtet. Während sich diese Befürchtungen in einigen Ländern bewahrheitet haben (z. B. Italien, USA), zeichnen Studien in der Schweiz ein uneinheitliches Bild: Zwar haben Umfragen zufolge Spannungen und Konflikte in Familien zugenommen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist aber keine flächendeckende Zunahme häuslicher Gewalt aus. Allerdings werden hier nur polizeilich registrierte Fälle aufgenommen. Viele Betroffene wenden sich jedoch nicht an die Polizei und insbesondere während der Lockdowns standen sie potenziell noch stärker unter der Kontrolle der Täter*innen. Zudem sind vielfach Schlüsselpersonen bei der Früherkennung innerfamiliärer Gewalt in Folge der Massnahmen weggefallen (z. B. Lehrkräfte, Erzieher*innen). Ergänzend zu offiziellen Statistiken (Hellfeld) werden daher Dunkelfeldstudien benötigt, in denen die Bevölkerung nach erlebter und/oder ausgeübter häuslicher Gewalt gefragt wird. Im Rahmen einer Langzeitstudie der Hochschule Luzern wurden im Sommer und Herbst 2020 zwei strukturrepräsentative Stichproben zu innerfamiliären Spannungen und Gewalt online befragt (n=1 037 bzw. 1 097 Personen [ab 18 Jahren]). Die Befunde zeigen, dass die Prävalenzraten für Gewalt zwischen erwachsenen Familienmitgliedern (z. B. Paargewalt) im Verlauf der Pandemie stabil geblieben sind. Mit zunehmender Dauer der Pandemie gestiegen ist jedoch die Häufigkeit elterlicher Gewalt gegen Kinder. Dabei zeigen die Analysen, dass die Pandemie bekannte Risikofaktoren für innerfamiliäre Gewalt wie prekäre finanzielle Verhältnisse verschärft. Im Vortrag werden Schlussfolgerungen für die Gewaltprävention in Pandemiezeiten aufgezeigt.
Familienrechtspsychologie
Franziska Uhle: Herausforderung Konstruktdefinition „Kindeswille“: Ein Systematic Review zu Definitionen und empirischen Befunden
Den Forderungen nach Selbstbestimmung und Beteiligung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention folgend, wird der Kindeswille als eines der gewichtigsten Prüfkriterien bei kindeswohlorientierten Rechtsentscheidungen einbezogen. Obwohl sich die Diagnostik des Kindeswillens durch die persönliche Befragung von Kindern zu einem üblichen Baustein bei solchen Entscheidungen entwickelt hat, bestehen grundlegende Differenzen hinsichtlich der Konstruktdefinition und der Operationalisierung. Es werden Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche in fünf Datenbanken (PsycINFO, PSYNDEX, Scopus, Web of Science, Google Scholar) zum Konstrukt Kindeswille vorgestellt. Insgesamt werden 13 extrahierte deutsch- und englischsprachige Definitionen des Kindeswillens analysiert und gegenüberstellt. Zudem werden insgesamt N = 34 nationale und internationale empirische Studien aus dem rechtspsychologischen Kontext im Detail beleuchtet, in denen der Wille von Kindern und Jugendlichen erfasst und quantitativ oder qualitativ analysiert wurde. Während einige - v.a. deutsche - Definitionsversuche ein fokussiertes und zukunftsgewandtes Verständnis des Kindeswillens bieten, zielen andere mit einem breiteren Blickwinkel auf die gegenwartsbezogene, themenübergreifende Erlebenswelt des Kindes ab. Empirische Studien zum Kindeswillen basieren bislang zumeist auf qualitativen Analysen mit kleinen Stichproben und nutzen heterogene Operationalisierungsansätze. Es fanden sich hohe Überschneidungen mit Konstrukten wie der kindlichen Partizipation oder kindlichen Bedürfnissen, Wahrnehmungen und Erfahrungen. Alle eingeschlossenen Studien ergaben Hinweise darauf, dass Kinder bei Fragen, die sie selbst betreffen, informiert werden und die Gelegenheit bekommen wollen, sich zu äußern, ohne notwendigerweise selbst zu entscheiden. Implikationen für die zukünftige Forschung werden diskutiert.
Rainer Banse: FamDiag: eine tabletgestützte Applikation zur Erfassung von Beziehungsqualität, Erziehungsverhalten und Parentifizierung aus der Sicht von Kindern
In der Familienrechtspsychologie besteht ein großer Bedarf an theoretisch und empirisch fundierten diagnostischen Verfahren. Es wurden 36 familienrechtspsychologischen Gutachter*innen befragt, in welchen Themenbereichen aus ihrer Sicht neue Testverfahren benötigt werden. Unter den zehn am häufigsten genannten waren die Konstrukten Parentifizierung, Erziehungsverhalten und Beziehungsqualität. In Zusammenarbeit mit der TH Köln wurde das Testverfahren FamDiag entwickelt, das mit Hilfe einer tabletgestützten Applikation diese Konstrukte kindgerecht zu erfassen. Mit der Applikation erstellen Kinder zunächst in spielerischer Weise mit einem Editor Bilder von ihren Familienmitgliedern. Diese Phase dient auch zur Herstellung des Rapports zum Kind. Danach werden ihnen schriftlich und/oder akustisch Items zu den drei genannten Konstrukten vorgegeben, die durch Berühren der jeweiligen Familienmitglieder beantworten werden können. In einer ersten Pilotstudie konnte gezeigt werden, dass Kinder ab einem Alter von fünf Jahren gerne und mühelos mit der App umgehen konnten. Die Darstellung der Familienmitglieder und die Bearbeitung der drei Subtests inklusive automatischer Auswertung für die drei Konstrukte betrug maximal 22 Minuten. Es werden Ergebnisse einer weiteren Studie mit einer größeren Stichprobe berichtet, in der neben der Reliabilität auch die konvergente Validität des Verfahrens anhand von Selbstberichtsdaten der Eltern zu den drei Konstrukten erhoben wurde.
Charis Neuerburg: Entwicklung eines familienrechtspsychologischen Testverfahrens zu Parentifizierung
Ziel des vorgestellten Projekts ist die Entwicklung und Validierung eines standardisierten Fragebogens zum Thema Parentifizierung, welcher die Häufigkeit der Übernahme von Haushaltstätigkeiten sowie die Rollenverteilung innerhalb der Familie erfragt. Es wurden mehrere Studien durchgeführt, in denen die Faktorenstruktur des Fragebogens und seine Zusammenhänge mit verschiedenen Kriterien untersucht wurden. In einer ersten Studie wurden Daten von 384 Kindern und Jugendlichen (8 bis 17 Jahre) und 221 jeweiligen Elternteilen erhoben, in einer parallel durchgeführten Onlinestudie wurden 97 weitere Elternteile rekrutiert. Zur Validierung wurde der Kidscreen-10-Index (The Kidscreen Group Europe, 2006) als Maß für die gesundheitsbezogene Lebensqualität in der Kinder- und der Elternversion verwendet. In einer weiteren, retrospektiven Onlinestudie mit insgesamt 836 Teilnehmer*innen (18 bis 65 Jahre) wurde der Zusammenhang der Aufgabenübernahme in der Kindheit und Jugend mit der Lebenszufriedenheit (Satisfaction With Life Scale, Schumacher, 2003), der Selbstwirksamkeitserwartung (Allgemeine Selbstwirksamkeits Kurzskala, Beierlein et al., 2012), der Resilienz (Brief Resilience Scale, Chmitorz et al., 2018), Berufswahl, altruistischen Arbeitswerten (Work Values Inventory, Seifert & Bergmann, 1983), der Abschlussnote und der empfundenen Belastung durch die derzeitige Ausbildung/Berufstätigkeit untersucht. Insgesamt zeigte die wahrgenommene Fairness positive und die emotionale Aufgabenübernahme negative signifikante Zusammenhänge mit den benannten Kriterien. Nur mit der empfundenen Belastung war die wahrgenommene Fairness negativ bzw. die emotionale Aufgabenübernahme positiv assoziiert. In der ersten Studie wurde der Zusammenhang zwischen instrumenteller Aufgabenübernahme und gesundheitsbezogener Lebensqualität außerdem signifikant durch die wahrgenommene Fairness moderiert. Die Implikationen der Ergebnisse für die Anwendung im Rahmen der familienrechtspsychologischen Begutachtung werden diskutiert.
Sarah Meister: Unterstützende Geschwisterbeziehung bei elterlicher Trennung und Scheidung – Auswirkungen auf langfristige Befindlichkeiten und soziale Kompetenzen Betroffener
Elterliche Trennung und Scheidung stellt für viele betroffene Kinder einen Stressor oder sogar ein kritisches Lebensereignis dar. Eine positive Ressource bei der Bewältigung solcher Lebensereignisse können positive Geschwisterbeziehungen sein. Wir untersuchten, inwieweit sich Einzel- und Geschwisterkinder in der Bewältigung der elterlichen Trennung unterscheiden. Hierfür wurden N = 124 Erwachsene retrospektiv zu früheren Trennungs- und Scheidungserfahrungen sowie ihren aktuellen Befindlichkeiten befragt. Wir betrachteten das momentane Selbstbild, die selbsteingeschätzte Resilienz sowie die Zufriedenheit mit der eigenen Partnerschaft und Elternschaft. Darüber hinaus wurden als soziale Kompetenzen die Empathie, Konfliktfähigkeit und Perspektivübernahme erfragt. Die Ergebnisse offenbaren weder für die zurückliegenden Verarbeitungsmuster noch für die aktuellen Befindlichkeiten signifikante Unterschiede zwischen den Einzel- und Geschwisterkindern. Es zeigte sich jedoch, dass Mädchen im Vergleich zu Jungen das Erlebte eher internal verarbeiten. Darüber hinaus fanden sich signifikante Zusammenhänge zwischen einer guten, unterstützenden Geschwisterbeziehung während der Trennungsphase und der aktuellen Resilienz (r = .38). Die unterstützende Geschwisterbeziehung zeigte sich auch als ein signifikanter Prädiktor für Ausprägungen aktueller sozialer Kompetenzen (Konfliktfähigkeit und Empathie, r = .52; Konfliktfähigkeit und Perspektivübernahme, r = .63). Ein Mediationsmodell gibt Hinweise darauf, dass die während der elterlichen Trennung erlebten Schuldgefühle zwischen einer negativen Bewertung der elterlichen Trennung und einem momentan negativen Selbstbild vermitteln. Insgesamt wird deutlich, dass eine positiv erlebte Geschwisterbeziehung während der elterlichen Trennung dabei helfen kann, persönliche Ressourcen und soziale Kompetenzen auszubilden. Wir diskutieren, welche Forschungsaspekte vertieft werden sollten, um die zugrundeliegenden Prozesse und Unterstützungsfaktoren im Falle einer elterliche Trennung besser verstehen zu können.
Gina-Melissa Semrau: Ein schwerer Rucksack? Aktuelle elterliche Belastung als Ergebnis eigener traumatischer Kindheitserlebnisse
Traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend wirken sich negativ auf eine Vielzahl von Variablen aus, die für den eigenen Lebensweg wichtig erscheinen (z. B. Gilbert et al., 2009; Witt et al., 2013). In einer Online-Studie befragten wir Eltern nach eigenen Kindheitserlebnissen und wollten wissen, ob dies auch eine Belastung für die eigene Elternkompetenz darstellt. In dieser Studie gaben N = 105 Personen retrospektiv zu ihrem eigenen Traumatisierungsgrad und der momentanen elterlichen Belastung Auskunft. Neben diesen Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdung erhoben wir außerdem die Einstellung zu Bestrafungsverhalten, relevante demografische Merkmale, sowie mögliche Schutz- und Kompensationsmechanismen (Resilienz, Selbstwert). Auf Ebene der Kinder erfassten wir mögliche Risikofaktoren (Alter, Einschränkungen, nicht-leibliches Kind). Die meisten befragten Eltern waren als Kinder insbesondere von Vernachlässigung betroffen. Bildeten sich im Entwicklungsverlauf Resilienz und Selbstwert aus, verringerte dies das heutige Belastungserleben der Eltern. Gleichzeitig bedingten insbesondere emotionale Misshandlung und die Gesamtheit der traumatischen Erlebnisse eine geringe Resilienz- und Selbstwertentwicklung. Beim Selbstwert zeigte sich ein solcher Zusammenhang auch in Bezug auf sexuellen Missbrauch und emotionale Vernachlässigung. Eine Kausalanalyse legt nahe, dass die Beziehung zwischen traumatischen Erfahrungen und elterlicher Belastung partiell über den Selbstwert mediiert wird. Eine hoch ausgeprägte Resilienz konnte jedoch den ungünstigen Zusammenhang zwischen traumatischen Kindheitserfahrungen und der aktuellen elterlichen Belastung nicht abpuffern. Erfahrungen einer zurückliegenden körperlichen Misshandlung der Befragten hatten einen besonders starken Einfluss auf deren Zustimmung zu körperlichen Strafen in der eigenen Elternrolle. Unsere Ergebnisse diskutieren wir vor dem Hintergrund der Notwendigkeit der Prävention und zeitnaher Intervention bei Kindeswohlgefährdung sowie der Vernachlässigung der Vernachlässigung.
Brainstorming-Session: Förderung der Wissenschaftskommunikation im Fachbereich Rechtspsychologie: Wer, wie und was? (Kristina Suchotzki & Verena Oberlader)
Effektive Wissenschaftskommunikation informiert die Öffentlichkeit über aktuelle Forschungsbefunde und leistet somit einen wichtigen Beitrag zu gesellschaftlichen Diskursen. Idealerweise werden Erkenntnisse der Wissenschaft hierdurch greifbar und in die Praxis transportiert. Darüberhinaus erhöht Wissenschaftskommunikation die Sichtbarkeit kommunizierender Wissenschaftler*innen und damit auch die Sichtbarkeit der jeweiligen Forschungsdisziplin. Als Organisatorinnen dieser Brainstorming-Session sind wir der Auffassung, dass der Fachbereich Rechtspsychologie ein großes, zum Teil noch unausgeschöpftes Potential besitzt, empirische Befunde von hoher gesellschaftlicher Relevanz breit(er) und zugänglich(er) zu kommunizieren. Dabei sind unterschiedliche Formate denkbar, von Beiträgen in traditionellen Medien, über soziale Medien bis hin zu Veranstaltungen. Im Rahmen dieser Brainstorming Session möchten wir gemeinsam Ideen entwickeln, wie jede*r individuell, aber auch die Fachgruppe als Organisation die Sichtbarkeit rechtspsychologischer Befunde erhöhen kann. Bei ausreichend Interesse würden wir uns freuen, das Thema Wissenschaftskommunikation in der Rechtspsychologie im Rahmen einer Interessensgruppe über die Brainstorming-Session hinaus weiterzuverfolgen.
Pause 14:45 - 15:15 h
Keynote: Michael Seto
Psychological Risk Factors for Sexual Offending Against Children 15:15 - 16:15 h
Psychological Risk Factors for Sexual Offending Against Children 15:15 - 16:15 h
Social science research has consistently identified a set of factors associated with sexual offending against children, including both online and in-person forms. Knowledge about these risk factors inform contemporary explanations of sexual offending against children and are important for assessment and intervention. In this talk, I briefly review this evidence using the motivation-facilitation model, which highlights particular motivations such as pedophilia (sexual attraction to prepubescent children) and facilitation factors such as antisocial personality.
Pause 16:15 - 16:45 h
Parallel Sessions 2 16:45 - 18:15 h
Kriminalprognose
Marie Joséphine Hamatschek: SERTAN – Ein handlungs- und kontrolltheoretischer Ansatz der Kriminalprognose
Unser Verständnis der Wirkung psychologischer Prozesse und Dispositionen auf normabweichendes und antisoziales Verhalten verbessert sich zunehmend. Dennoch finden genuin psychologische Konzepte und kriminalpsychologische Überlegungen in der Methodik der nomothetischen Prognose kriminellen Rückfalls bisher kaum Beachtung. Dass Neuentwicklungen im Vergleich zu etablierten kriminalprognostischen Instrumenten kaum noch einen Zugewinn an Vorhersageleistung erbringen, mag darauf hindeuten, dass dieser weitgehend atheoretische Ansatz an seine Grenzen stößt. Aus dem Versuch, eine Brücke zwischen (kriminal-)psychologischer Theorie und prognostischer Praxis zu schlagen, entstand die Self and Emotion Regulation Theory of Adherence to Norms (SERTAN), ein Arbeitsmodell zur Aktualgenese kriminellen Verhaltens. Basierend auf den Grundannahmen der Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (Kuhl, 2001) stellt SERTAN persönliche Besonderheiten im Umgang mit positivem und negativem Affekt heraus. Zentral ist hierbei die Annahme, dass motivationale Faktoren (wie soziale Einflüsse und mangelnde persönliche Bindung an strafrechtliche Normen) ebenso wie Kompetenzen der Verhaltenssteuerung (wie Impulsivität und Frustrationstoleranz) erst durch jeweils charakteristische affektive Zustände verhaltenswirksam werden. Sofern nun die affektive Reaktivität einer gewissen intraindividuellen Stabilität unterliegt, sollten die affektiven und affektregulatorischen Prozesse während der Ausführung einer Straftat Auskunft darüber geben, welche der genannten Risikofaktoren für die Prognose erneuter Straffälligkeit am wichtigsten sind. Beispielsweise sollte die persönliche Bindung an Regeln und Gesetze dann entscheidend sein, wenn während der Absichtsbildungsphase der Anlasstat kein übermäßiger Affekt bestand, insbesondere kein negativer. Erste Ergebnisse zu derartigen Interaktionen zwischen affektiven Vorgängen beim Anlasstatgeschehen und bekannten Risikofaktoren werden vorgestellt.
Sophia Weber: Selbstwert und antisoziales Verhalten Inhaftierter
Die Erklärung und Vorhersage von antisozialem Verhalten und Delinquenz ist ein zentrales Ziel der forensisch-psychologischen Forschung. Bei der Frage, was einen Menschen dazu bewegt, sich entgegen den allgemeinen Normen zu verhalten, wird auch der Selbstwert zur Erklärung in Betracht gezogen. In der vorliegenden Arbeit wurde der Zusammenhang zwischen dem Selbstwert und dem antisozialen Verhalten inhaftierter Männer aus dem Regel- und Jugendstrafvollzug in drei Studien untersucht. Mittels Interviews, Fragebögen, Aktenanalysen und einer Bundeszentralregisterabfrage wurden Selbstwert, Narzissmus sowie drei Indikatoren antisozialen Verhaltens (selbstberichtete Aggression, Fehlverhalten in Haft, erneute Straffälligkeit) erhoben. In Studie 1 (n = 88) zeigte sich bei querschnittlicher Betrachtung ein negativer Zusammenhang zwischen dem Selbstwert und der Aggression der erwachsenen Inhaftierten; ihr Narzissmus hing dagegen positiv mit ihrer Aggression zusammen. In Studie 2 (n = 73) – einer Längsschnittstudie mit jungen erwachsenen Teilnehmern – ergab sich querschnittlich ebenfalls ein negativer Zusammenhang zwischen Selbstwert und Aggression. Das Fehlverhalten im Haftverlauf ließ sich dagegen zu keinem Zeitpunkt durch den Selbstwert erklären. In Studie 3 – die Längsschnittdaten von Jugendstrafgefangenen (n = 2200) nutzte – konnten weder die Aggression noch das Fehlverhalten in Haft durch den Selbstwert zu verschiedenen Messzeitpunkten vorhergesagt werden. Eine Reinhaftierung nach Haftentlassung konnte durch einen niedrigen Selbstwert zum Ende der Haft vorhergesagt werden. Zusammenfassend deuten die Ergebnisse daraufhin, dass sowohl ein niedriger Selbstwert als auch ein ausgeprägter Narzissmus potentielle Risikofaktoren für antisoziales Verhalten sind. Die Effektstärken liegen dabei aber allenfalls im niedrigen bis moderaten Bereich.
Verena Oberlader: Ergebnisse einer prospektiven Studie zur Rolle von Identität und Selbstwirksamkeitserwartung im Desistance from crime Prozess
Qualitative und quantitative Forschungsbefunde legen nahe, dass kriminalitätsbezogene Aspekte der Identität und Selbstwirksamkeitserwartung das zukünftige Legalverhalten von Personen beeinflusst, die in der Vergangenheit regelmäßig Straftaten begangen haben. Erste prospektive Längsschnittstudien zeigen, dass Personen mit einer stärker ausgeprägten prosozialen Identität und Selbstwirksamkeitserwartung eine geringere Wahrscheinlichkeit für weitere Straftaten aufweisen bzw. dass Personen mit einer stärker ausgeprägten kriminellen Identität und Selbstwirksamkeitserwartung eine höhere Wahrscheinlichkeit für weitere Straftaten aufweisen. Limitationen in der Operationalisierung von prosozialer und krimineller Identität und Selbstwirksamkeitserwartung schränken die psychologische Bedeutung dieser Studienbefunde jedoch ein. Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen der vorliegenden, prospektiven Studie ein direktes und ein indirektes Maß zur Erfassung der gesetzestreuen und kriminellen Identität sowie ein direktes Maß zur Erfassung der Selbstwirksamkeitserwartung für gesetzestreues und straffälliges Verhalten entwickelt (T1, N = 325 Klient*innen der Bewährungshilfe). Diese Verfahren wurden anhand querschnittlicher Zusammenhänge mit einem etablierten aktuarischen Kriminalprognoseverfahren (Offender Group Reconviction Score 3, OGRS 3) validiert. Nach einem 2-3jährigem Follow-up Zeitraum wurde untersucht, ob die Maße Varianz an der Rückfälligkeit der Studienteilnehmer*innen aufklären (T2). Die Studienergebnisse zeigten, dass die gesetzestreue bzw. kriminelle Identität sowie die Selbstwirksamkeitserwartung für gesetzestreues und kriminelles Verhalten mit vergangenem straffälligem Verhalten korrelierten (T1) und die gesetzestreue bzw. kriminelle Identität über den OGRS 3 Score hinaus Varianz an der Rückfälligkeit der Studienteilnehmer*innen erklärte (T2). Die Bedeutung dieser Befunde für den Desistance from crime Prozess wird diskutiert.
Julia Nentzl: Rückfallprognose bei Nutzern von Missbrauchsabbildungen im juristischen Dunkelfeld
Missbrauchsabbildungen gewannen in diesem Jahrhundert aufgrund ihrer leichten Zugänglichkeit im Internet zunehmend an Bedeutung. Um die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu verhindern, ist die Abschätzung des Rückfallrisikos bei Tätern unerlässlich. Allerdings lassen die Instrumente zur Risi-koprognose von Sexualstraftaten häufig Missbrauchsabbildungsdelikte außer Acht. Das Child Porno-graphy Offender Risk Tool (CPORT) füllt diese Lücke. Anhand des Alters des Täters, seiner Vorge-schichte, seines sexuellen Interesses an Kindern und des Geschlechts des Opfers in den verwendeten Darstellungen sagt das CPORT neue Strafanzeigen oder Verurteilungen wegen Sexualstraftaten oder Missbrauchsabbildun bei verurteilten Nutzern von Missbrauchsabbildungen voraus. Leider ist dessen Fähigkeit, polizeilich unentdeckte Rückfälle vorherzusagen, sowie die Anwendbarkeit auf noch nie entdeckte Straftäter nicht bekannt. Daher wird der CPORT derzeit in einer deutschen Stichprobe von Personen mit sexuellem Interesse an Kindern untersucht, die therapeutische Hilfe suchen. Eine erste Studie untersucht seine Fähigkeit, unentdeckte Rückfälle mit Missbrauchsabbildungen in einer Stich-probe von Tätern mit vorheriger einschlägiger Verurteilung vorherzusagen. Die zweite Studie unter-sucht seine prädiktive Validität bei Nutzern von Missbrauchsabbildungen, die nie durch die Strafver-folgung entdeckt wurden. Der Vorhersagewert zusätzlicher Variablen wird ebenfalls untersucht, u.a. ausschließliches sexuelles Interesse an Kindern, Zugang zu und Online-Interaktion mit Kindern, Alter der Kinder und Schwere des Missbrauchs in den Darstellungen, Dauer der Beschäftigung mit Miss-brauchsabbildungen, Aufwand für Verschleiern der Aktivitäten, sonstiger Pornografiekonsum, sowie Substanzkonsum.
Stefanie Rücknagel: Klinisch bedeutsame Veränderungen von dynamischen Risikofaktoren bei Sexual- und Gewaltstraftätern über den SothA-HH-Aufenthalt
Die bisherigen Evaluationsstudien der intramuralen Behandlung von Sexual- und Gewaltstraftätern sind mit methodischen Einschränkungen behaftet. Dies liegt u.a. daran, dass die häufig angewandten gruppenstatistischen Prä-Post-Vergleiche von Risikofaktoren ausschließlich aggregierte quantitative Informationen liefern. Dabei werden qualitative Informationen über die intraindividuellen Veränderungen nicht sichtbar. Eine Möglichkeit intraindividuelle Veränderungen von Risikofaktoren reliabel zu messen, stellt der z-standardisierte Reliable Change Index (RCI) dar. In der vorliegenden Studie wurden Veränderungen während des Aufenthalts in der Sozialtherapeutischen Anstalt Hamburg (SothA-HH) auf Gruppen- und Individualebene in dynamischen Risikofaktoren (STABLE-2007) anhand einer Stichprobe von erwachsenen, männlichen Sexual- und Gewaltstraftätern aus dem Evaluationsprojekt der SothA-HH untersucht. Eine klinisch bedeutsame Veränderung wurde über den sog. Clinically Significant Change definiert, d.h. dass der RCI eine Standardabweichung übersteigt und sich das Individuum von einem dysfunktionalen (rückfälligen) zu einem funktionalen (nicht-rückfälligen) Niveau entwickelt hat. Während die Ergebnisse auf Gruppenebene keine signifikanten Änderungen der dynamischen Risikofaktoren zur Verlaufsmessung zeigten, verdeutlichten die Analysen auf Individualebene, dass einige Straftäter klinisch bedeutsame Veränderungen aufwiesen und deren Risikofaktoren im nicht-rückfälligen Bereich lagen. Einige wenige Straftäter verschlechterten sich zur Verlaufsmessung. Diese multimethodale Untersuchung ermöglicht eine differenzierte und multiperspektivische Analyse von Veränderungen in Risikofaktoren über den SothA-HH-Aufenthalt. Die Ergebnisse werden in Bezug auf Möglichkeiten und Grenzen der aktuell in Evaluationsstudien angewendeten Methoden diskutiert.
Aussagepsychologie I
Merle Wachendörfer: Review zur Unterscheidung von wahren und falschen Erinnerungen
Im Vergleich zur Lügendetektion wurde der Unterscheidung zwischen wahren und falschen Erinnerungsberichten in der Glaubhaftigkeitsforschung bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, die erfolgreiche Suggestion von nicht erlebten Ereignissen bestätigen (Lindsay et al., 2004; Loftus & Pickrell, 1995; Shaw & Porter, 2015; Oeberst et al., 2021). Um Kriterien zu identifizieren, die hilfreich bei der Unterscheidung von wahren und falschen Erinnerungsberichten sein könnten, wurde ein Scoping Review durchgeführt. Basierend auf einer Auswahl an Kriterien, wurden von einer Ausgansstichprobe von N = 1242 Forschungsartikeln n = 15 Studien identifiziert, die entweder Aussagecharakteristika oder Selbsteinschätzungen von ProbandInnen bezüglich ihrer Aussagen analysiert haben. Insgesamt konnten 102 Kriterien (61 Aussagecharakteristika, 41 Selbsteinschätzungen) identifiziert werden, wovon 71 jeweils nur einmal untersucht wurden. Von diesen wurden wiederum für 41 Kriterien keine signifikanten Ergebnisse gefunden. Von denen die mehrfach untersucht wurden (n = 31), ergaben sich für 21 Kriterien überwiegend keine signifikanten Unterschiede und für drei ergaben sich lediglich inkonsistente Befunde. In der Summe gibt es also nur für sieben Kriterien robuste und konsistente Unterschiede zwischen wahren und falschen Erinnerungen. Jedoch entsprechen diese signifikanten Unterschiede nicht gleichzeitig einer Unterscheidbarkeit wahrer und falscher Erinnerungen durch Dritte (z.B. GutachterInnen). Außerdem zeigt das Review einerseits, dass es mehr Forschung benötigt, um eindeutige Schlussfolgerungen zur Unterscheidung zwischen wahren und falschen Erinnerungen ziehen zu können. Andererseits ergeben sich grundsätzliche Schwierigkeiten (Definition falscher Erinnerungen, kleine Stichprobengröße), die bei der Interpretation der Ergebnisse und zukünftiger Forschung berücksichtigt werden sollten.
Julia Kristin Heinz: Falsche Erinnerungen und Metakognitionen: Vorschlag eines neuen Ansatzes zur Unterscheidung suggerierter und tatsächlich erlebter Erinnerungen
Aktuell existiert keine Methode, anhand welcher bereits entstandene falsche Erinnerungen reliabel und valide von wahren Erinnerungen unterschieden werden können. Es wird daher ein neuer Ansatz vorgeschlagen, welcher die Unterscheidung erlebnisbasierter und suggerierter Erinnerungen anhand spezifischer Metakognitionen vorschlägt: Da zum Zeitpunkt der initialen Suggestion nicht erlebter Ereignisse eine Diskrepanz zwischen dem suggerierten Ereignis und der autobiographischen Erinnerung einer Person besteht, ist zu erwarten, dass Personen diese Diskrepanz wahrnehmen und damit zusammenhängend auch Überraschung empfinden. Sollten diese Metakognitionen auch später noch valide rekonstruierbar sein, könnten sie sich als diagnostisch erweisen. In einem ersten Schritt wurden Diskrepanzentdeckung und Überraschung post hoc mittels Inhaltskodierungen der Interview-Protokolle einer Memory Implantation- Studie untersucht. Bei der ersten Konfrontation mit nicht erlebten (jedoch als erlebt suggerierten) Ereignissen zeigten die Teilnehmer:innen (N = 52) wie erwartet ein signifikant höheres Überraschungs- und Diskrepanzempfinden als bei der Konfrontation mit tatsächlich erlebten Ereignissen. Darüber hinaus ergab eine Nachbefragung der Proband:innen ein Jahr nach der Studie (N = 38) erste Hinweise darauf, dass sie die zum Zeitpunkt der initialen Suggestion auftretenden Metakognitionen valide und reliabel rekonstruieren können: Sie erinnerten sich nicht nur an eine deutlich stärkere Überraschung bei nicht erlebten (vs. erlebten) Ereignissen, sondern konnten auch ihre ursprüngliche Sicherheit in die eigenen Erinnerungen so akkurat rekonstruieren, dass eine Unterscheidung zwischen wahren und falschen Erinnerungen anhand dieser rekonstruierten Sicherheit erfolgreich war. Dennoch weisen die Studien einige Limitationen auf, sodass weitere Forschung nötig ist, um die Ergebnisse zu replizieren und erweitern sowie die Praxistauglichkeit dieses Ansatzes zu untersuchen.
Mona Leve: Warum werden Aussagen nicht als erlebnisbasiert beurteilt? – Eine systematische Analyse aussagepsychologischer Gutachten
Aussagepsychologische Gutachten zur Frage der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussage werden in Deutschland regelmäßig, insbesondere in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen herangezogen. Mit einem BGH-Urteil aus dem Jahr 1999 (30.07.1999, BGH St 45, 164) wurde ein hypothesengeleitetes Vorgehen mit der Prüfung von absichtlicher Falschbezichtigung und Suggestion als wesentliche Gegenhypothesen zur Wahrannahme zum methodischen Standard für die Erstellung von Glaubhaftigkeitsgutachten erklärt. Seit einigen Jahren wird verstärkt Kritik an der Methodik der aussagepsychologischen Begutachtung geäußert, wobei u. a. eine Benachteiligung von Opferzeug:innen thematisiert wird. Da es bislang nur wenige systematische Untersuchungen gibt, die sich mit Inhalt und Ergebnissen von Glaubhaftigkeitsgutachten beschäftigen, mangelt es dieser Diskussion bisher jedoch an einer empirischen Grundlage. In einem aktuellen Projekt sollen daher 623 zwischen 1988 und 2015 am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité Berlin erstellte aussagepsychologische Gutachten analysiert und auf diese Weise die Beurteilung der Gutachter:innen nachgezeichnet werden. Mit der hiesigen Untersuchung präsentieren wir ein erstes Teilprojekt. Dieses betrifft die Analyse von 209 Glaubhaftigkeitsgutachten, bei denen die aussagepsychologischen Sachverständigen das Ergebnis des Gutachtens in der internen Gutachtendokumentation als „nicht glaubhaft“ eingeordnet haben. Konkret sollen auf Basis der erhobenen Daten typische Fallkonstellationen identifiziert und die Frage fokussiert werden, welche zentrale(n) Gegenhypothese(n) in diesen Fällen nicht verworfen wurde(n) und anhand welcher Aspekte aussagepsychologische Sachverständige diese Entscheidungen getroffen haben. Dadurch soll eine Datengrundlage für eine empirisch begründete Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen von Glaubhaftigkeitsgutachten ermöglicht werden.
Jonas Schemmel: Wie verbreitet sind wiederentdeckte Erinnerungen in der Psychotherapie? - Ergebnisse einer aktuellen Umfrage unter Psychotherapeuten in Deutschland
Hintergrund: Immer wieder geht es in aussagepsychologischen Begutachtungen um Erinnerungen, die in Psychotherapie aufgedeckt wurden. Die vorliegende Studie untersucht, wie häufig und unter welchen Umständen wiederentdeckte Erinnerungen in Psychotherapien insgesamt vorkommen. Der Fokus liegt dabei auf der therapeutischen Perspektive. Methoden: In einer explorativen Online-Befragung berichteten 258 praktisch tätige Psychotherapeut*innen (VT: 59 %; TP: 39 %) über ihre Erfahrungen mit wiederentdeckten Erinnerungen. Ergebnisse: 78 % der Teilnehmenden berichteten von mindestens einer Patient*in, die in Therapie eine Erinnerung wiederentdeckte, wobei dies zumeist nur eine Minderheit der Fälle (Md=20%) und unterschiedliche, aber zumeist aversive Erlebnisse betroffen habe. Laut großer Mehrheit der Teilnehmenden hatten sie entweder selbst oder auch Patient*innen mindestens einmal ein traumatisches, nicht erinnerliches Ereignis hinter Symptomen vermutet (jeweils 82 %), was jedoch nur in einer Minderheit der Fälle vorgekommen sei (jeweils Md=10%). Ein substanzieller Anteil berichtete, daraufhin gezielt Aufdeckungsversuche unternommen zu haben (eigene Vermutung: 50 %; Patientenvermutung: 37 %). Dabei wendeten sie überwiegend potenziell suggestive Techniken an, die bei einer substanziellen Minderheit (Md=30%) zu wiederentdeckten Erinnerungen führten. 31 % der Gesamt-Stichprobe hatten mindestens eine Erinnerung auf der Basis von Vorannahmen mithilfe solcher Techniken aufgedeckt. Unterschiede zwischen den Therapieschulen (VT vs. TP) ergaben sich für die Vermutung eines traumatischen Ereignisses, nicht für (erfolgreiche) Aufdeckungsversuche. Diese korrelierten jedoch mit den Annahmen, traumatische Erinnerungen würden regelmäßig verdrängt und müssten in Therapie aufgedeckt werden. Schlussfolgerungen: Wiederentdeckte Erinnerungen scheinen regelmäßig Thema in Psychotherapien zu sein. Um das Risiko falscher Erinnerungen zu minimieren, legen die Daten die Integration gedächtnis- bzw. aussagepsychologischer Inhalte in die psychotherapeutische Ausbildung nahe.
Symposium: Entwicklungshindernisse bei straffällig gewordenen jungen Menschen: Relevanz für Begutachtung und Behandlung (Organisation: Steffen Barra)
Empirische Studien zeigen, dass straffällig gewordene (junge) Menschen erhöhte Raten an frühen und fortlaufenden psychosozialen Belastungen aufweisen, welche einer gesunden und straffreien Entwicklung entgegenstehen. Dabei finden sich Zusammenhänge zwischen frühen Belastungserfahrungen (z.B. Missbrauch und Vernachlässigung) und psychischen Auffälligkeiten sowohl bzgl. des erstmaligen Begehens als auch der Aufrechterhaltung krimineller Verhaltensweisen. In unser Forschung verfolgen wir durch die Beschäftigung mit diesen Aspekten das Ziel, durch eine adäquate Implikation unserer Erkenntnisse in der Begutachtungs- und Behandlungspraxis v.a. bei jungen Menschen die Chance einer funktionalen, straffreien Zukunftsgestaltung zu erhöhen. In zwei Beiträgen möchten Daniel Turner und Steffen Barra eigene Studien vorstellen, welche die Zusammenhänge von frühen Belastungserlebnissen und psychischen Auffälligkeiten bzw. kriminellen Rückfällen bei straffälligen Jugendlichen aus Deutschland und der Schweiz beleuchten. In einem weiteren Beitrag von Priscilla Gregorio-Hertz wird die Validität des VRAG-R für die Legalprognose von straffälligen jungen Menschen thematisiert und dabei auf die Relevanz psychopathologischer Entwicklungsauffälligkeiten (z.B. ADHS) eingegangen. Marcus Müller wird in einem abschließenden Beitrag diskutieren, inwiefern die aktuellen Forschungsergebnisse in der Begutachtungspraxis relevant sein können und wie sie das therapeutische Vorgehen im Sinne der Delikt- bzw. Rückfallprävention beeinflussen können.
Daniel Turner: Psychopathologische Auffälligkeiten und belastende Kindheitserfahrungen bei straffällig gewordenen jungen Menschen und deren Bedeutung für das Rückfallrisiko
Bei jungen Menschen, die Straftaten begangen habe, wurden hohe Raten von belastenden Kindheitserfahrungen (z. B. Missbrauch und Vernachlässigung) festgestellt. Diese scheinen das Risiko zu erhöhen, dass straffällig gewordene Jugendliche und junge Erwachsene relevante psychische Probleme entwickeln. Darüber hinaus wurde wiederholt vorgeschlagen, dass sowohl belastende Kindheitserfahrungen als auch psychische Auffälligkeiten in der Kindheit und Jugend mit einer erhöhten Rückfallrate bei straffällig gewordenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen einhergehen, auch wenn dieser Zusammenhang bisher noch nicht häufig untersucht wurde. Ziel der vorliegenden Studie war es daher, die Prävalenz von traumatischen Kindheitserfahrungen und psychischen Problemen sowie deren Zusammenhang in einer Stichprobe von männlichen und weiblichen jugendlichen Straftätern zu evaluieren. Insgesamt nahmen 161 straffällig gewordene Jugendliche und junge Erwachsene (16,8% weiblich) aus der Jugendarrestanstalt Worms an der Untersuchung teil. Es wurden beträchtliche Raten von belastenden Kindheitserfahrungen gefunden. In einer latenten Klassenanalyse konnten drei Subtypen von straffällig gewordenen jungen Menschen in Abhängigkeit von ihren individuell erlebten belastenden Kindheitserfahrungen gefunden werden: (1) wenige belastende Erfahrungen, (2) hauptsächlich Vernachlässigung und (3) multiple belastende Erfahrungen. Belastende Erfahrungen waren signifikant mit dem Auftreten von internalisierenden und externalisierenden psychischen Problemen assoziiert, wobei der Subtyp mit multiplen Belastungserfahrungen am häufigsten über signifikante psychische Gesundheitsprobleme berichtete. Weibliche Personen berichteten höhere Raten aller Formen von belastenden Erfahrungen als männliche. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie weisen auf die Relevanz einer routinemäßigen Erfassung von belastenden Entwicklungserfahrungen bei straffällig gewordenen jungen Menschen hin. Dies kann dazu dienen, mögliche prädisponierende Faktoren psychischer Gesundheitsprobleme sowie zukünftiger krimineller Verhaltensweisen zu identifizieren.
Dr. Steffen Barra: Junge Menschen mit Sexualdelikten: Zur Relevanz von psychosozialen Belastungserfahrungen in Kriminalitätsverläufen, Risikoprognosen und Therapieansätzen
Junge Menschen, die Sexualdelikte begangen haben, stellen eine äußerst heterogene Gruppe dar - sowohl im Hinblick auf ihr Delikthandeln als auch auf ihre psychosozialen Belastungserfahrungen. Um sich dieser Heterogenität zu nähern und entsprechende Implikationen zum Verständnis von Kriminalitätsverläufen, zur Erstellung von Risikoprognosen und zur Gestaltung von Therapieansätzen abzuleiten, werden mehrere Studien vorgestellt, die auf einer umfangreichen, in der Schweiz erhobenen Stichprobe von jungen Menschen, die Sexualdelikte begangen haben, basieren. Es wird aufgezeigt, dass psychosoziale Belastungen differenzierte Zusammenhänge mit Deliktmerkmalen aufweisen, schwere und andauernde Belastungen eine wichtige Rolle bezüglich zukünftiger Delinquenz einnehmen und eine erhöhte Anzahl von Belastungen zwar mit zukünftiger Delinquenz zusammenhängt, gleichzeitig aber die Genauigkeit bestehender Instrumente zur Vorhersage zukünftiger Delinquenz einschränkt. Zudem wird auf erste Ergebnisse einer randomisiert-kontrollierten Evaluationsstudie eingegangen, welche die Wirksamkeit zweier deliktpräventiver Therapieansätze (delikt- vs. ressourcen/skills-orientiert) für junge Menschen, die Sexualdelikte begangen haben, untersucht.
Priscilla Gregorio Hertz: Legalprognose bei jungen Menschen mit dem VRAG-R unter Berücksichtigung von ADHS
Der VRAG-R ist ein international etabliertes Instrument zur Rückfallrisikobeurteilung bei erwachsenen Straftätern. Ob der VRAG-R auch bei jungen Menschen, die eine Straftat begangen haben, einen gewalttätigen Rückfall valide vorhersagen kann, wurde bislang selten untersucht. Um dies empirisch zu überprüfen, wurde die prädiktive Validität des VRAG-R in einer Stichprobe von 106 jungen Menschen, die unterschiedliche Straftaten begangen hatten, innerhalb eines Zeitraums von durchschnittlich 13 Jahren nach Entlassung aus der Jugendstrafanstalt Ottweiler untersucht. Weil der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei der Begehung von Straftaten durch jungen Menschen hohe Relevanz beigemessen wird, wurde außerdem untersucht, ob eine ADHS-Symptomatik in der Rückfallrisikobeurteilung ebenfalls relevant sein könnte. Dafür wurde die inkrementelle prädiktive Validität der ADHS-Symptomatik über die Einschätzungen des VRAG-R hinaus kalkuliert. Die Ergebnisse der Studie unterstützen die Annahme, dass der VRAG-R bei der Rückfallrisikobeurteilung von Gewaltstraftaten durch junge Menschen, die bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sind, valide verwendet werden kann. Zudem zeigt die ADHS-Symptomatik eine inkrementelle prädiktive Validität über die Rückfallrisikoeinschätzungen des VRAG-R hinaus. Folglich erscheint eine intensivierte Betrachtung und Behandlung von ADHS-Symptomen für ein langfristiges erfolgreiches Risikomanagement von besonderer Bedeutung zu sein.
Marcus Müller: Entwicklungshindernisse bei straffällig gewordenen jungen Menschen - Praktische Implikationen für Begutachtung und Behandlung
Die Grundprinzipien und das etablierte Vorgehen zur Gefährlichkeitseinschätzung bei straffällig gewordenen Erwachsenen lassen sich nicht ohne Weiteres auf junge Menschen, die Straftaten begangen haben, übertragen. Gleiches gilt auch für die Planung und Durchführung von deliktpräventiven Behandlungsansätzen, im intramuralen Setting wie auch extramural. Aufbauend auf empirischen Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen werden die Besonderheiten bei Diagnostik und Behandlung junger Menschen, die straffällig geworden sind, vorgestellt, insbesondere im Hinblick auf die praktische Arbeit mit dieser Klientel. Im Sinne der Risk-Need-Responsivity-Prinzipien (RNR-Prinzipien) und des Good-Lives-Model (GLM) werden Aspekte vorgestellt, die bei der Ermittlung des Rückfallrisikos, der Identifikation und Bearbeitung dynamischer Risiko- und Schutzfaktoren und im Hinblick auf die Ansprechbarkeit bei jungen Menschen besonders zu beachten sind.
Pause 18:15 - 18:45 h
Mitgliederversammlung 18:45 - 19:45 h
Donnerstag 23.09
Keynote: Taina Laajasalo
The Barnahus-model and experiences from Finland 13:00 - 14:00 h
The Barnahus-model and experiences from Finland 13:00 - 14:00 h
The Barnahus (Children’s House) is an interdisciplinary and multi-agency unit designed to serve child victims and witnesses in a child-friendly and efficient way. Barnahus has gained popularity among politicians and professionals alike, and in recent years the model has spread from the Nordic countries to several other European countries.
This presentation describes the core elements of the model. It also sheds light on the local adaption of the model in Finland, where connecting the work of the Barnahus units to the academia as well as utilising evidence-based methods have become some of the central tenets of the work. These are considered necessary for successful implementation of the Barnahus-model and full consideration of Children’s Rights. The presentation will also touch upon the dilemmas, challenges and different perspectives that are encountered and need to be considered when implementing the model.
This presentation describes the core elements of the model. It also sheds light on the local adaption of the model in Finland, where connecting the work of the Barnahus units to the academia as well as utilising evidence-based methods have become some of the central tenets of the work. These are considered necessary for successful implementation of the Barnahus-model and full consideration of Children’s Rights. The presentation will also touch upon the dilemmas, challenges and different perspectives that are encountered and need to be considered when implementing the model.
Pause 14:00 - 14:30 h
Parallel Sessions 3 14:30 - 16:00 h
Straftäterbehandlung I
Kerstin Geißelsöder: Behandlung opioidabhängiger Inhaftierter in bayerischen Justizvollzugsanstalten: Ärztliche Erfahrungswerte und Entscheidungskriterien sowie aktuelle Vorgehensweisen
Opioidabhängigkeit stellt im Justizvollzug ein bedeutendes Problem dar. Positive Effekte einer Substitutionsbehandlung konnten mittlerweile in zahlreichen Studien dargestellt werden, diese beziehen sich allerdings größtenteils auf extramurale Settings. Die Forschungslage zur Behandlung Opioidabhängiger in Haft ist vergleichsweise dünn und eher uneindeutig. Die vorgestellte Studie ist Teil einer Untersuchung zur Behandlung opioidabhängiger Inhaftierter im bayerischen Strafvollzug, die durch das bayerische Justizministerium gefördert wird. Die momentane Behandlungspraxis bei opioidabhängigen Inhaftierten wurde im Rahmen einer qualitativen Vorstudie erfasst. So wurden die Entscheidungskriterien der Ärztinnen und Ärzte hinsichtlich einer abstinenz- oder substitutionsorientierten Behandlung, die Medikation und die Vergabepraxis der Medikamente bei Substitution sowie das Übergangsmanagement sowohl bei abstinent als auch bei substituiert entlassenen Gefangenen erhoben. Zugrunde liegen Telefoninterviews mit n = 18 Ärztinnen und Ärzten aus bayerischen Justizvollzugsanstalten. In den meisten Anstalten wurden Substitutionsbehandlungen, die die Gefangenen bereits vor ihrer Inhaftierung im extramuralen Setting begonnen hatten, fortgesetzt. Ein gemischtes Bild bezüglich der Behandlung sowie der Entscheidungskriterien der Ärztinnen und Ärzte, welche Behandlungsform in Haft gewählt wurde, zeigte sich hingegen bei Gefangenen, die zum Zeitpunkt der Inhaftierung opioidabhängig waren und konsumierten. Darüber hinaus wurden die von den Ärztinnen und Ärzten wahrgenommenen Vor- und Nachteile einer abstinenz- bzw. substitutionsorientierten Behandlung in Haft herausgearbeitet und diskutiert.
Michael Dechant: Evaluation der Behandlung opioidabhängiger Inhaftierter des bayerischen Strafvollzugs
Inhaftierte zählen hinsichtlich des Drogenkonsums zu einer Hochrisikogruppe. Untersuchungen der Strafgefangenenpopulation zeigen, dass über 50% der betroffenen Personen in Deutschland einen missbräuchlichen Konsum von Drogen, neben Alkohol insbesondere Opioiden, aufweisen. Während die Substitutionsbehandlung bei Opioidabhängigkeit in Freiheit mittlerweile als Richtlinienverfahren, mit hinreichend empirischen Belegen der Überlegenheit zu einer abstinenzorientierten Behandlung, gelten kann, ist die Befundlage für Personen in Haft – gerade für den deutschsprachigen Raum – als unzureichend und teils widersprüchlich einzustufen. Forschungsergebnisse aus anderen Ländern können aufgrund der stark divergierenden Haft- und Behandlungssettings kaum übertragen werden. Gefördert durch das bayerische Justizministerium wird derzeit eine Evaluation der Behandlung opioidabhängiger Strafgefangener im bayerischen Strafvollzug durchgeführt. Hauptaugenmerk der Studie ist die Frage, welche Ergebnisse eine substitutions- oder abstinenzorientierte Behandlung hinsichtlich Legalbewährung, illegalen Konsums und Einbindung in das soziale und berufliche Leben nach Haftentlassung aufweisen. Der Vortrag stellt erste Ergebnisse aus der Erhebung dar, so zeigen sich hinsichtlich der Haftzeit gemischte Befunde, Gefangene selbst sind tendenziell zufriedener mit ihrer Zeit im Gefängnis, dies zeigt sich jedoch nicht in den offiziellen Akten (kein Unterschied in Hafterleichterungen oder Disziplinarmaßnahmen). Für die Zeit nach der Haftentlassung zeigt sich nach ersten Ergebnissen ein positiver Effekt der Substitution in Haft dergestalt, dass substituierte Häftlinge seltener illegalen Opioidkonsum wiederaufnehmen. Weitere betrachtete Variablen sind z. B. die Wohn- und Arbeitssituation und die Legalbewährung zu denen erste Analysen dargestellt werden.
Klara Boksán: Meta-Analyse zur Wirkung der Substitutionstherapie bei opioidabhängigen Inhaftierten hinsichtlich Drogenkonsum, Weiterbehandlung, Delinquenz und Gesundheit nach Haftentlassung
Opioidabhängigkeit stellt im Justizvollzug ein bedeutendes Problem dar, nicht zuletzt da Substanzkonsum nach wie vor als Risikofaktor für eine Inhaftierung gilt. Studien zur Substitutionsbehandlung bei opioidabhängigen Inhaftierten liegen zwar vor und zeigen überwiegend positive Effekte auf die Reduzierung des illegalen Drogenkonsums und die Weiterführung einer Behandlung nach Haftentlassung. Allerdings ist die Studienlage speziell für das Haft-Setting – im Vergleich zur gut bestätigten Wirksamkeit von Opioidsubstitution bei Patientinnen und Patienten in Freiheit – relativ spärlich und die Befunde sind keineswegs einheitlich. Zur Strukturierung und Integration des bisherigen Forschungsstandes führen wir eine Meta-Analyse zur Substitutionsbehandlung opioidabhängiger Inhaftierter durch. Wir integrierten Studien, die den Einsatz eines Substitutionsmittels bei Opioidkonsumenten untersuchen, Daten in Haft und nach Haftentlassung erheben und die Treatment- mit mindestens einer Kontrollgruppe, die ebenfalls in Haft rekrutiert wurde, vergleichen. Datenbankrecherchen ergaben knapp 4.000 Treffer, von denen nach einem mehrstufigen Screening n = 23 Studien die Einschlusskriterien erfüllten. Diese Studien stammten in der Mehrheit aus den USA und waren überwiegend (quasi-)experimentell angelegt. Meist wurden die Substitutionsmedikamente Methadon, Buprenorphin oder Naltrexon untersucht. Der Beitrag stellt erste metaanalytische Befunde zur Wirkung der Substitutionsbehandlung hinsichtlich illegalem Drogenkonsum, Weiterbehandlung nach Entlassung, physischer Gesundheit und Legalbewährung vor und diskutiert diese vor dem Hintergrund der Versorgungssituation in der Praxis.
Stefan Suhling: Gewalt- und Sexualstraftäterinnen im Strafvollzug: Sozialtherapie, Rückfall, Prognose
Frauen stellen mit einem Anteil von ca. 5 % eine recht kleine Gruppe unter allen Inhaftierten dar. Gewalt- und Sexualstraftäterinnen sind noch seltener, weshalb es kaum wissenschaftliche Studien über sie gibt. Die vorliegende Studie bezieht alle Frauen mit ein, die wegen eines schweren Gewalt- oder Sexualdelikts verurteilt worden waren und zwischen 2008 und 2018 aus dem niedersächsischen Justizvollzug in die Freiheit entlassen wurden (N = 117). Auf der Basis einer Analyse der Gefangenenpersonalakten und Informationen über eine erneute Inhaftierung wird untersucht, (a) ob es Unterschiede in den „mitgebrachten“ Merkmalen zwischen sozialtherapeutisch behandelten (n = 40) und nicht behandelten Frauen gibt, (b) welche Merkmale zwischen rückfälligen und nicht rückfälligen Frauen differenzieren, (c) ob das LSI-R eine gute Vorhersageleistung erzielt und (d) ob die sozialtherapeutische Behandlung mit geringeren Wiederinhaftierungsraten zusammenhängt.
Lena Carl: Therapieauflagen bei haftentlassenen Sexualstraftätern: Prädiktoren und Zusammenhänge mit Rückfälligkeit
Seit der Reform der Führungsaufsicht 2006 wurde das Nachsorgeangebot für Haftentlassene - auch Sexualstraftäter - sukzessive ausgebaut. Ein Großteil der nachbehandelten Sexualstraftäter wird über Bewährungsauflagen oder Weisungen der Führungsaufsicht an eine Nachsorgeeinrichtung angebunden, bislang gibt es aber kaum Informationen darüber, wie häufig Therapieauflagen erteilt werden, an welche Faktoren sie geknüpft sind und ob sie rückfallpräventiv wirken. Die vorliegende Studie untersucht daher an einer Stichprobe entlassener Sexualstraftäter, unter welchen Bedingungen Therapieweisungen für Sexualstraftäter erteilt werden und ob diese einen Zusammenhang mit Rückfall aufweisen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass 77 % aller Sexualstraftäter eine Therapieauflage erhielten, dabei war der Anteil seit 2004 signifikant angestiegen. Jüngere Straftäter, Täter mit ausschließlich kindlichen Opfern, mit niedrigerem Rückfallrisiko und einer Behandlung in Haft erhielten häufiger eine Therapieauflage. Für in der Haft unbehandelte Sexualstraftäter hatte die Therapieauflage einen signifikanten Zusammenhang mit allgemeinem und Gewaltrückfall, bei Straftätern mit Einzel- und Gruppentherapie galt dies nur für Rückfälle mit einem Gewaltdelikt. Für Entlassene aus der Sozialtherapie war eine Therapieauflage kein signifikanter Prädiktor. Aus den Ergebnissen lassen sich Implikationen für die Praxis und weitere Forschung ableiten und diskutieren.
Symposium: Ergebnisse des Forschungsprojekts "ViContact" zu Erstgesprächen mit Kindern bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch und einem virtuellen Training zur Gesprächsführung (Organisation: Elsa Gewehr)
In diesem Symposium stellen wir die Ergebnisse des interdisziplinären Verbundsprojekts „ViContact“ vor, in dem ein Trainingsprogram für das Führen von Gesprächen mit Kindern bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch für zukünftige Lehrkräfte entwickelt wurde. Das Programm besteht aus einem Seminarkonzept und einem Gesprächstraining in einer virtuellen Realität. Wir stellen insbesondere das virtuelle Training aus inhaltlicher und technischer Perspektive vor, zeigen Videoausschnitte aus virtuellen Gesprächen und berichten erste Ergebnisse aus einer Evaluationsstudie. Zusätzlich stellen wir weitere Studien vor, die im Rahmen des ViContact Projekts entstanden sind – eine Befragung von Experten verschiedener Professionen zu Merkmalen erwünschter Gesprächsführung und Dokumentation in Erstgesprächen im schulischen Kontext, eine Onlinestudie mit Jugendlichen zur Wirkung von sozio-emotional unterstützenden Fragetechniken in Befragungen bei Verdacht auf Misshandlung Jugendlicher und die Entwicklung eines Fragebogens zu individuellen Unterschieden im Umgang mit Verdachtsfällen sexuellen Kindesmissbrauchs.
Niels Krause: ViContact: Erstgespräche bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch – Training in virtueller Umgebung
Erstgespräche bei Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch stehen in einem Spannungsfeld zwischen der Unterstützung betroffener Kinder, belastende Erlebnisse mitzuteilen, um ihnen adäquate Hilfe anbieten zu können, und der Vermeidung suggestiver Prozesse durch einseitiges Verfolgen vager Verdachtsmomente. Nach Forderungen beispielsweise des Justizministeriums oder des UBSKM sollen Lehrer*innen Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdungen auch in Gesprächen mit ihren Schüler*innen nachgehen. Viele Lehrkräfte sehen sich jedoch nicht ausreichend auf solche Gespräche vorbereitet. Im Projekt ViContact wurde eine virtuelle Umgebung entwickelt, in der Lehramtsstudierende Gesprächsführung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch trainieren können. Teilnehmende führen Gespräche mit virtuellen Kindern, die vom Aussehen und Gesprächsverhalten her etwa zehnjährigen Kindern entsprechen. Diese verfügen über programmierte Gedächtnisinhalte in Form narrativer Antworten, die sie bei angemessener (ergebnisoffener, nicht-suggestiver, unterstützender) Befragung preisgeben. Im Anschluss an die Gespräche erhalten sie automatisiertes, personalisiertes Feedback anhand von Beispielen aus den Gesprächen der Teilnehmenden. In einer laufenden Untersuchung werden das VR-Training und ein zweitägiges Trainingsseminar jeweils einzeln und in Kombination im Vergleich mit einer Kontrollgruppe evaluiert. Das Konzept des VR-Trainings und der Evaluationsstudie werden vorgestellt.
Hermann Barbe: Einsatz von VR-Training zur Verbesserung von Befragungstechniken
Im folgenden Vortrag möchten wir ein Trainingsprogramm vorstellen, welches immersive virtuelle Realitäten verwendet, um Befragungstechniken üben zu können. Dafür haben wir eine virtuelle Umgebung entwickelt, welche dafür eingesetzt werden kann, die Initiierung und das Führen von Interviews mit Kindern, die im Verdacht stehen sexuell missbraucht worden zu sein, zu trainieren. Die Konversationen mit einem von acht unterschiedlichen Kindern können mittels natürlicher Sprache geführt werden. Die individuellen Biographien werden von einem Dialog-Management-System verwaltet, welches auf der ChatScript-Programmiersprache beruht. Die Verwendung natürlicher Sprache wurde durch eine Implementierung eines Kaldi basierten Speech-to-Text Moduls realisiert. Beispielhaft werden Usability- und Akzeptanz-Daten des Einsatzes in der Vicontact Studie präsentiert, um zu zeigen, dass wir ein valides Trainingskonstrukt entwickelt haben, welches sich gut für das Training von Befragungstechniken eignet. Alle Programmkomponenten werden als Open Source Code veröffentlicht, sodass das Trainingsprogramm durch eine Adaption der Inhalte eine vielversprechende Möglichkeit bieten kann, auch in anderen Bereichen wie der Strafverfolgung oder Medizin eingesetzt zu werden.
Anett Tamm: Merkmale erwünschter Gesprächsführung und Dokumentation für Erstgespräche, die im schulischen Kontext bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt geführt werden
Bevor Kinder in Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt offiziell befragt werden, haben im Vorfeld in der Regel informelle Gespräche stattgefunden, zum Beispiel im schulischen Kontext. Im Gegensatz zu forensischen Befragungen, für die bereits evaluierte Interviewleitfäden vorliegen, gibt es für die Gestaltung von Erstgesprächen im schulischen Kontext bislang keine formulierten Kriterien, über die Konsens besteht. Leitfäden aus dem forensischen Kontext können nicht ohne weiteres übertragen werden, da sie vorrangig darauf ausgerichtet sind, detaillierte Informationen über genaue Abläufe von Handlungen zu erheben. Dies ist nicht notwendig, wenn zunächst abzuklären ist, ob überhaupt ein interventionsbedürftiges Ereignis stattgefunden hat. Deshalb baten wir in einer Onlinestudie Expert*innen in freiem Antwortformat und auf Ratingskalen um ihre Einschätzung vorab operationalisierter Merkmale erwünschter Gesprächsführung und Dokumentation für den genannten Kontext. Um klinische, aussagepsychologische und strafrechtliche Aspekte angemessen zu berücksichtigen, adressierten wir sie an Personen mit fortgeschrittenem kinder- und jugendpsychotherapeutischem, aussagepsychologischem und strafrechtlichem Sachverstand. Ergänzend baten wir Lehrkräfte als anwendende Berufsgruppe um die Bewertung der Merkmale. Die Ergebnisse aus den 164 abgeschlossenen Datensätzen implizieren einen Konsens zwischen den Berufsgruppen. Alle schätzten die Bedeutung einer offenen, suggestionsfreien und unterstützenden Gesprächsführung sehr hoch ein. Im Vergleich zu den anderen Professionen wurde von den Vertreter*innen der Aussagepsychologie und des Strafrechts solchen Merkmalen etwas mehr Bedeutung beigemessen, die auf eine Erhebung von Informationen ohne potenzielle Beeinflussung ausgerichtet sind. Hingegen wurde dem emotional unterstützenden Verhalten von den Vertreter*innen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und des Lehramts etwas mehr Bedeutung beigemessen. Die Bedeutung der Ergebnisse für die Entwicklung eines Gesprächsleitfadens für Erstgespräche im schulischen Kontext wird diskutiert.
Rebecca Reichel: Die Wirkung von sozioemotional unterstützenden Fragetechniken in Befragungen bei Verdacht auf Misshandlung Jugendlicher
Bei der Befragung Minderjähriger zu sexuellem oder körperlichem Missbrauch ist es wichtig, dass Interviewende auf einen unterstützenden und nicht-suggestiven Stil achten, um das Unbehagen der Befragten zu verringern und gleichzeitig die Genauigkeit ihrer Aussagen zu erhöhen. Das R NICHD wurde entwickelt, um Interviewenden Befragungstechniken zu vermitteln, die diesen Zweck erfüllen. Obwohl das R NICHD bereits umfassend untersucht worden ist, mangelt es an Forschung zu seiner deutschen Übersetzung, zur differentiellen Sicht von Befragten auf die einzelnen Fragetechniken und zu seiner Wirkung auf Personen, die keinen Missbrauch erlebt haben. Ziel der vorliegenden Studie war es, diese Fragen mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren mittels einer Online-Befragung zu untersuchen. Anhand von Vignetten wurden die Versuchspersonen (N = 387) den hypothetischen Szenarien einer misshandelten oder einer nicht misshandelten Gruppe zugeordnet und gebeten, 50 einzelne Fragetechniken der deutschen Übersetzung des R NICHD hinsichtlich des Einflusses auf Redebereitschaft und Erwartungsdruck zu bewerten. Die Ergebnisse aus zwei ANCOVAs untermauerten die generelle Wirksamkeit des R NICHD bezüglich der Bereitschaft sich zu äußern, ohne sich unter Druck gesetzt zu fühlen. Die Untersuchung der Item-Parameter aus einem Mixed-Rasch-Modell ergab, dass ein Großteil der Fragetechniken eine vorteilhafte Wirkung auf die Versuchspersonen hatte. Einige der Fragetechniken zeigten jedoch einen gegenteiligen Effekt, d. h. sie erhöhten den Erwartungsdruck und/oder verringerten die Redebereitschaft der Versuchspersonen. Bezüglich der differentiellen Wirkung der Fragetechniken wurden zwei Klassen von Versuchspersonen gefunden, die unterschiedliche Antwortstile zeigten, einen extremen und einen moderaten Stil. Basierend auf der Gesamtbetrachtung der Ergebnisse werden Empfehlungen für und gegen einzelne Fragetechniken aus dem deutschen R NICHD gegeben.
Elsa Gewehr: Lassen sich individuelle Unterschiede im „Interviewer Bias“ bei Verdachtsfällen sexuellen Kindesmissbrauchs vorhersagen? Konstruktion und Validierung der Skala „Cognitions and Emotions about Child Sexual Abuse”
Die Befragung von Kindern zur Abklärung eines Verdachts von sexuellem Missbrauch geht mit dem Risiko einher, die eigene Verdachtshypothese rein konfirmatorisch zu verfolgen und die Aussagen eines Kindes einseitig zu interpretieren oder suggestiv zu beeinflussen. Um differenzielle Aspekte dieses sogenannten „Interviewer Bias“ zu untersuchen, haben wir ein Fragebogeninstrument entwickelt, das verschiedene Einstellungen, Denkstile und emotionale Reaktionsmuster zum Thema Kindesmissbrauch umfasst, die eine solch einseitige Prüfstrategie begünstigen können. Der Fragebogen „Cognitions and Emotions about Child Sexual Abuse“ (CE-CSA) misst mit 22 Items die drei Skalen „Naïve Confidence“ - das unkritische Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Missbrauchserfahrungen bei Kindern zu erkennen, und das unkritische Akzeptieren aller Angaben von Kindern über sexuellen Missbrauch, „Justice System Distrust“ - das Misstrauen in den Umgang des Justizsystems mit Verdachtsfällen sexuellen Missbrauchs, und „Emotional Reactivity“ - die Intensität der eigenen emotionalen Reaktionen beim Thema sexueller Kindesmissbrauch. Der CE-CSA basiert auf dem Itempool eines finnischen Fragebogeninstruments, welcher übersetzt, erweitert und einer Stichprobe von N = 830 Deutschsprachigen Studierenden vorgelegt wurde. Die Itemselektion und Skalenkonstruktion erfolgte automatisiert mittels des „Ant Colony Optimization“ Verfahrens (ACO; Schultze, 2017). Für eine erste Validierung wurden weitere Fragebogeninstrumente eingesetzt und Einschätzungen zu Missbrauchsverdachtsfällen anhand von Fallvignetten erhoben. In weiteren Studien soll der Zusammenhang zwischen dem CE-CSA und suggestivem Frageverhalten untersucht werden. Vorgestellt werden die Skalenkonstruktion, psychometrische Eigenschaften sowie erste Validierungsergebnisse.
Symposium Kriminalprävention (Organisation: Prof. Dr. Martin Rettenberger)
In diesem Symposium werden unterschiedliche empirische Projekte vorgestellt, in denen psychologische Methoden der Risiko- und Kriminalprognose jeweils im Zentrum stehen. Zunächst werden Ergebnisse eines Evaluationsprojekts der risikoorientierten Bewährungshilfe in Hessen präsentiert, die zeigen, dass die systematische Berücksichtigung fachlich fundierter Risikoeinschätzungen die Wirksamkeit der Bewährungshilfe signifikant steigern konnte. Anschließend wird der aktuelle Stand im Projekt „RADAR-rechts“ vorgestellt, bei dem das Bundeskriminalamt (BKA) gemeinsam mit der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) und weiteren Kooperationspartnern ein Instrument zur Risiko- und Gefährlichkeitseinschätzung im Bereich rechtsextremistisch motivierter Gewaltdelinquenz entwickelt. In den drei folgenden Beiträgen werden kriminalprognostische Themen im Bereich der Sexualdelinquenz behandelt: Zunächst wird die Entwicklung onlinebasierter Selbstauskunftsverfahren vorgestellt, anhand derer akut- und stabil-dynamische Risikofaktoren bei entlassenen bzw. zu Bewährungsstrafen verurteilten Sexualstraftäter erfasst werden können. Im nächsten Vortrag werden aktuelle empirische Ergebnisse zur prädiktiven Validität von Diagnosen psychischer Störungen bei Personen, die aufgrund von Sexualstraftaten verurteilt wurden, präsentiert. Abschließend wird die deutsche Übersetzung der kürzlich publizierten zweiten Version des Sexual Violence Risk-20 (SVR-20 V2) vorgestellt und die psychometrischen Eigenschaften, die anhand einer umfangreichen deutschsprachigen Stichprobe geprüft wurden, diskutiert. Der SVR-20 ist ein klinisch-strukturiertes Prognoseinstrument, dessen erste Version international und im deutschsprachigen Raum zu den am häufigsten eingesetzten Instrumenten zur Risikoerfassung bei Personen, die aufgrund sexuell motivierter Straftaten verurteilt wurden, zählt.
Katharina Nitsche: Beurteilung (akut-) dynamischer Risikofaktoren anhand von onlinebasierten Selbstbeschreibungsverfahren
Das Verbundprojekt @myTabu beinhaltet die Entwicklung und Evaluation einer therapeutengestützten Online-Intervention für Personen, die wegen sexuellen Kindesmissbrauchs und/oder Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften verurteilt wurden. Zu diesem Zweck werden Messverfahren benötigt, die Rückfallrisikofaktoren und Therapieeffekte differenziert und onlinebasiert erfassen können. Für diesen Anwendungsbereich weisen Selbstbeschreibungsverfahren entscheidende Vorteile auf, wie u. a. eine ökonomische Anwendung.
Aus diesem Grund wurden in der vorliegenden Studie drei Onlinefragebögen zur Erfassung des Rückfallrisikos entwickelt und validiert. Das erste Verfahren, der ACUTE-2007-SR erfasst akut-dynamische Rückfallrisikofaktoren (z. B. emotionale Krisensituation), das zweite Verfahren erfasst stabil-dynamische Konstrukte (z. B. Problembewältigungsstrategien), die in einer Intervention üblicherweise angesprochen werden und das dritte Verfahren erfasst allgemein und sexuell deviante und kriminelle Verhaltensweisen (z. B. Bedrohung).
Die Validierung aller drei Verfahren erfolgt anhand einer Stichprobe von N = 177 Probanden, die wegen sexuellen Kindesmissbrauchs und/oder Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften verurteilt wurden und unter Bewährungs- oder Führungsaufsicht stehen. Im Rahmen einer Längsschnittstudie fanden zu drei Messzeitpunkten Online-Selbstbeurteilungen statt. Darüber hinaus wurden auch die jeweils zuständigen Bewährungshelfer*innen bzw. Therapeut*innen der teilnehmenden Probanden zu zwei Zeitpunkten um eine Online-Fremdbeurteilung gebeten. Als zusätzliche Informationsquelle wurde eine umfangreiche Aktenanalyse vor Ort in den teilnehmenden Einrichtungen durchgeführt. Durch den multimethodalen Ansatz wurde ein umfangreiches Datenmaterial generiert, was insbesondere im Hinblick auf die psychometrischen Kennwerte der Verfahren ausgewertet wird. Die Ergebnisse werden vorgestellt und diskutiert.
Aus diesem Grund wurden in der vorliegenden Studie drei Onlinefragebögen zur Erfassung des Rückfallrisikos entwickelt und validiert. Das erste Verfahren, der ACUTE-2007-SR erfasst akut-dynamische Rückfallrisikofaktoren (z. B. emotionale Krisensituation), das zweite Verfahren erfasst stabil-dynamische Konstrukte (z. B. Problembewältigungsstrategien), die in einer Intervention üblicherweise angesprochen werden und das dritte Verfahren erfasst allgemein und sexuell deviante und kriminelle Verhaltensweisen (z. B. Bedrohung).
Die Validierung aller drei Verfahren erfolgt anhand einer Stichprobe von N = 177 Probanden, die wegen sexuellen Kindesmissbrauchs und/oder Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften verurteilt wurden und unter Bewährungs- oder Führungsaufsicht stehen. Im Rahmen einer Längsschnittstudie fanden zu drei Messzeitpunkten Online-Selbstbeurteilungen statt. Darüber hinaus wurden auch die jeweils zuständigen Bewährungshelfer*innen bzw. Therapeut*innen der teilnehmenden Probanden zu zwei Zeitpunkten um eine Online-Fremdbeurteilung gebeten. Als zusätzliche Informationsquelle wurde eine umfangreiche Aktenanalyse vor Ort in den teilnehmenden Einrichtungen durchgeführt. Durch den multimethodalen Ansatz wurde ein umfangreiches Datenmaterial generiert, was insbesondere im Hinblick auf die psychometrischen Kennwerte der Verfahren ausgewertet wird. Die Ergebnisse werden vorgestellt und diskutiert.
Lisanne Breiling: Qualität und Nutzen von Risikoeinschätzungen in der Bewährungshilfe: Evaluation des Sicherheitsmanagements II in Hessen
Das Risk-Need-Responsivity-Modell ist ein im Rahmen der Behandlung straffällig gewordener Personen etablierter und vielfach untersuchter Ansatz zur Steigerung der Behandlungseffektivität und zur Reduktion krimineller Rückfälle. Inwieweit eine strukturierte Berücksichtigung des Risikoprinzips (Risk) in der Bewährungshilfe einerseits angemessen umgesetzt werden kann und andererseits die kriminalpräventive Effektivität der Betreuung steigert, wurde im Rahmen der Evaluation einer risikoorientierten und spezialisierten Betreuungsstruktur der hessischen Bewährungshilfe, des Sicherheitsmanagement (SIMA) II, untersucht. Hierzu wurden die Risikoeinschätzungen, die im SIMA II zwecks Festlegung der Behandlungsintensität durchgeführt werden, bzgl. ihrer Beurteilerübereinstimmung (Reliabilität) und ihrer Vorhersage (Validität) krimineller Rückfälle geprüft. Darüber hinaus wurden Rückfalldaten von 1 307 Proband*innen des SIMA II mit jenen einer risikoäquivalenten Kontrollgruppe verglichen. Die Ergebnisse weisen auf reliable und valide Risikoeinschätzungen sowie auf eine rückfallreduzierende Wirkung der risikoorientierten Bewährungshilfe im SIMA II hin.
Jonas Knäble: Entwicklung des Risikobewertungsinstrumentes RADAR-rechts zur Risikoeinschätzung bei schwerer rechtsextremistischer Gewalt
Das Projekt RADAR-rechts hat das Ziel, ein standardisiertes Risikobewertungsinstrument für schwere rechtsextremistische Gewalt zu entwickeln, das im polizeilichen Kontext angewendet werden kann. Auf der Grundlage relevanter Risiko- und Schutzmerkmalen soll eine Priorisierung polizeilich bekannter Personen des rechten Spektrums (insb. Gefährder und sog. relevante Personen) hinsichtlich der Begehung einer konkret lebensgefährlichen politisch motivierten Gewalttat erfolgen. In diesem Vortrag wird die Zielrichtung, das methodische Vorgehen sowie der aktuelle Stand in der Entwicklung des Instrumentes vorgestellt. Insbesondere werden die Strategie zur Identifikation relevanter Risiko- und Schutzfaktoren, deren Praktikabilität für die Ziele des Instrumentes und die Konzeptualisierung der Stichproben zur Evaluierung des Instrumentes behandelt.
Die Entwicklung des Risikobewertungsinstruments wird im Rahmen eines Forschungskonsortiums unter Leitung des Bundeskriminalamtes in Zusammenarbeit mit der Kriminologischen Zentralstelle realisiert. Die Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg begleitet das Projekt aus rechtlicher Perspektive. Zudem wird das Projekt von den assoziierten Partnern Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen, Landeskriminalamt Sachsen und dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung in Österreich unterstützt.
Die Entwicklung des Risikobewertungsinstruments wird im Rahmen eines Forschungskonsortiums unter Leitung des Bundeskriminalamtes in Zusammenarbeit mit der Kriminologischen Zentralstelle realisiert. Die Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg begleitet das Projekt aus rechtlicher Perspektive. Zudem wird das Projekt von den assoziierten Partnern Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen, Landeskriminalamt Sachsen und dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung in Österreich unterstützt.
Laura Biedermann: Die Relevanz von Diagnosen psychischer Störungen für die Vorhersage von Rückfällen bei Sexualstraftätern
Das Vorliegen einer psychischen Störung gilt bei verurteilten Straftätern traditionell als Risikofaktor für Rückfälle nach Haftentlassung, obwohl sich empirisch hierzu gemischte Befunde zeigen. Inwiefern psychische Erkrankungen eine inkrementelle prädiktive Validität zu etablierten Prognoseinstrumenten aufweisen, ist zumindest für die Gruppe der Männer, die aufgrund einer Sexualstraftat verurteilt wurden, noch weitestgehend ungeklärt. In der vorliegenden Arbeit wurde daher an einer Stichprobe von 992 Sexualstraftätern erhoben, inwieweit die Berücksichtigung psychischer Störungen die Vorhersage von Rückfälligkeit mittels der etablierten Prognoseinstrumenten Static-99 und SORAG verbessert. Der Nachbeobachtungszeitraum betrug M = 8.54 Jahre (SD = 3.42). 9.6% der Stichprobe wurden mit einem erneuten Sexualdelikt rückfällig und 21.2% begingen im Nachbeobachtungszeitraum eine Gewaltstraftat. Im Ergebnis konnten einige der untersuchten klinischen Diagnosen Rückfälligkeit mit Gewalt- und Sexualdelikten vorhersagen. Inkrementelle prädiktive Validität zum Static-99 zeigten dabei insbesondere der Exhibitionismus und eine exklusive pädophile Störung. Die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung konnte zusätzliche Varianz über die Risikoeinschätzung des SORAG hinaus aufklären. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und Delinquenz gibt und psychische Störungen nur in speziellen Konstellationen einen wesentlichen Risikofaktor für Rückfälligkeit darstellen. Psychische Störungen spielen aber eine entscheidende Rolle beim zukünftigen Risiko-Management und sollten daher weiterer Forschung zugeführt werden.
Martin Rettenberger: Die deutsche Version der revidierten Fassung des Sexual Violence Risk-20 (SVR-20 Version 2)
Der Sexual Violence Risk-20 (SVR-20), der erstmals in den 1990er Jahren im angloamerikanischen Raum veröffentlicht wurde, zählt heute international zu den am häufigsten eingesetzten klinisch-strukturierten Prognoseinstrumenten, die dem Prognosemodell des Structured Professional Judgement (SPJ) folgen. Wie im Rahmen der psychologischen Diagnostik und Kriminalprognostik üblich, wurde auch der SVR-20 im Rahmen einer intensiven Revisionsarbeit überarbeitet und kürzlich in der englischen Originalversion veröffentlicht. Im gegenständlichen Forschungsprojekt wurde diese englische Version ins Deutsche übersetzt und anschließend anhand einer umfangreichen Sexualstraftäterstichprobe kreuzvalidiert. In diesem Vortrag werden Daten zur Reliabilität sowie zur prädiktiven und inkrementellen Validität der deutschen Übersetzung des revidierten SVR-20 vorgestellt und diskutiert.
Pause 16:00 - 16:30 h
Parallel Sessions 4 16:30 - 18:00 h
Straftäterbehandlung II
Sophia Weber: Das Reasoning and Rehabilitation-Programm (R&R) im deutschen Strafvollzug
Das „Reasoning and Rehabilitation“-Programm (R&R) wird in zahlreichen Einrichtungen des deutschen Straf- und Maßregelvollzugs durchgeführt, jedoch fehlten bislang Befunde zur Behandlungseffektivität aus dem deutschen Strafvollzug. Präsentiert werden Ergebnisse einer Messwiederholungsstudie (Prä-, Post-, Follow-Up-Messung) an einer Stichprobe von 134 männlichen Inhaftierten im Alter von 17 bis 58 Jahren. Neben Selbstangaben (u. a. Aggression, Impulsivität, moralische Bewertungen, Empathie) wurden auch Angaben zum Fehlverhalten in Haft und erneute BZR-Einträge nach der Haftentlassung erhoben. Zum Vergleich diente eine nachträglich parallelisierte Kontrollgruppe von Inhaftierten (n = 113), die nicht am R&R-Programm teilgenommen hatten. Die Ergebnisse zeigen signifikante positive Veränderungen bei den erfassten Risiko- und Schutzfaktoren, die bis zur Follow-Up-Messung stabil blieben. Zudem wiesen die R&R-Teilnehmer signifikant niedrigere Reinhaftierungsraten als die Kontrollgruppe auf. Die Effekte in den Rückfallraten differierten dabei je nachdem ob Reinhaftierungen allgemein oder erneute Verurteilungen aufgrund eines Gewaltdeliktes und ob Inhaftierte aus dem Jugendstrafvollzug oder dem Regelstrafvollzug betrachtet wurden. Die Ergebnisse werden im Hinblick auf Behandlungserfordernisse diskutiert.
Karoline Luhn: Wer tut es wieder (nicht)? - Tatleugnung, Tätertypen und Rückfälligkeit bei Sexualstraftätern
Abstreiten und Leugnen ist eine übliche und adaptive Reaktion auf Fehlverhalten. Während positive Auswirkungen dieses Leugnens in der allgemeinen Psychologie anerkannt sind, wird Leugnen bei Straftätern dagegen oft als Risikofaktor für Rückfälligkeit aufgefasst. Die dem Beitrag zugrundeliegende Arbeit untersucht anhand einer Stichprobe von 367 erwachsenen, männlichen Sexualstraftätern die Fragestellung, wie Leugnen mit erneuter Straffälligkeit zusammenhängt und ob der Tätertypus diesen Zusammenhang beeinflusst. Die Ergebnisse zeigten, dass Leugnen eine erneute Straffälligkeit nicht vorhersagen kann und bestätigten damit die bestehende Forschungslage. Mithilfe einer Clusteranalyse wurden zwei Tätertypen in der Stichprobe identifiziert, (1) ein dissozialer und (2) ein integrierter Tätertypus. Mögliche Motive für eine Tatleugnung bei diesen Tätertypen werden diskutiert. Entgegen der Erwartung zeigt sich keine signifikante Interaktion zwischen Leugnen und Tätertypus. Praktische Implikationen der Ergebnisse insbesondere für die Straftäterbehandlung werden erläutert.
Jan Herter: Sind zufriedene Gefangene auch erfolgreicher? Klimawahrnehmung und Behandlungserfolg in der Sozialtherapie
Dem sozialen Klima in Justizvollzugsanstalten wird in letzter Zeit vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Verschiedene internationale Studien haben gezeigt, dass konstruktive soziale Beziehungen zwischen Bediensteten und Inhaftierten, aber auch zwischen Inhaftierten, positiv mit verschiedenen Erfolgsindikatoren des Strafvollzugs zusammenhängen können. Es gibt diesbezüglich aber noch nicht genügend Forschungsarbeiten aus Deutschland. Die vorliegende Studie untersucht, inwieweit sich die individuelle Wahrnehmung der sozialen Beziehungen in der Sozialtherapie auf den kurz- und langfristigen Behandlungserfolg auswirkt. Zu diesem Zweck werden Klima-Bewertungen sozialtherapeutischer Klienten mit Daten zum Therapie-Erfolg in Beziehung gesetzt. 104 Sexual- und Gewaltstraftäter in niedersächsischen sozialtherapeutischen Einrichtungen beurteilten das soziale Klima anhand der Celler Klima-Skalen. Geprüft wird die Hypothese, dass eine positivere Klima-Wahrnehmung mit (1) weniger Therapie-Abbrüchen, (2) höherer sozialer Kompetenz am Behandlungsende und (3) weniger Rückfällen einhergeht.
Marcel Guéridon: Ausreichend ähnlich oder doch ganz anders? Die Bewertung des Klimas in sozialtherapeutischen Einrichtungen durch Bedienstete und Inhaftierte
Eine Reihe von Studien legt nahe, dass das soziale Klima in Justizvollzugseinrichtungen durch Bedienstete und Inhaftierten sowie auch innerhalb dieser Gruppen systematisch unterschiedlich bewertet wird. Bisher mangelt es jedoch an einer integrativen Perspektive, wie es zu diesen Unterschieden kommt und welche Folgen für die Forschung zum Klima im Strafvollzug daraus resultieren. In diesem Beitrag wird die Problematik unterschiedlicher Bewertungen des sozialen Klimas umrissen. Ausgehend von einer Betrachtung der Befragungssituation als Entscheidungsaufgabe wird ein Rahmenmodell vorgeschlagen, aus dem konkrete, prüfbare Thesen abgeleitet werden können. Das Vorgehen wird anhand von Daten aus einer eigenen Untersuchung zum Klima in sozialtherapeutischen Einrichtungen illustriert. Dabei werden verschiedene Strategien zur Bestimmung und Bewertung der Übereinstimmung reflektiert und anhand der konkreten Daten gegenübergestellt. Sowohl die methodischen als auch die inhaltlichen Implikationen werden diskutiert.
Radikalisierung I
Forschungsgruppe Ant-Asyl-Agitation*: Radikalisierungsverläufe und psychologische Profile fremdenfeindlicher Straftäter
Im Beitrag werden die Ergebnisse eines vom BMI finanzierten Projekts zu Radikalisierungsverläufen fremdenfeindlicher Straftätern unter besonderer Berücksichtigung der Anti-Asyl-Agitation im Zuge der Flüchtlingsmigration 2015/16 vorgestellt. Die Studie basierte als Mixed-model-Ansatz auf biographischen Interviews und systematischer Einstellungs- und Persönlichkeitsdiagnostik von insgesamt 42 inhaftierten Straftätern, die wegen eines fremdenfeindlichen Delikts zum Zeitpunkt der Untersuchung einsaßen. Aus den biographischen Analysen konnten drei Teilgruppen identifiziert werden (initiierte, verstärkte, bestätigte Radikalisierungsverläufe), bei denen die Anti-Asyl-Agitation jeweils einen unterschiedlichen Stellenwert bei der Radikalisierung einnahm. Darüber hinaus konnten verschiedene Begründungsnarrative für die Taten aus den Interviews extrahiert werden. Im Zuge der psychologischen und Einstellungsdiagnostik zeigten sich bedeutsame Unterschiede zwischen den Werten die Straftäter und Vergleichs- oder Normwerten auf zahlreichen Einstellungsdimensionen und Persönlichkeitsmerkmalen. Diese Befunde werden abschließend vor dem Hintergrund biographischer Radikalisierungsprozesse diskutiert.
*(in alphabetischer Reihenfolge) Andreas Beelmann, Matthias Koch, Hannah Mietke, Yann Rees, Jakob Thinius, Andreas Zick
*(in alphabetischer Reihenfolge) Andreas Beelmann, Matthias Koch, Hannah Mietke, Yann Rees, Jakob Thinius, Andreas Zick
Julia Reiter: Radicalism, extremism, and all things non-moderate: Towards conceptual precision concerning radicalization outcomes and a corresponding measurement instrument.
The field of radicalization studies is interdisciplinary. Combining different angles such as psychology, criminology, sociology and political science, the process of radicalization is often discussed and investigated without defining where exactly it leads. Recently increasing interest in the differentiation between radicalization of attitudes and radicalization of behaviour highlights the fact that not all (and probably not even most) radicalization ends in political violence. Extending and building upon previous literature, we propose three possible outcomes of radicalization: benevolent radicalism, malevolent radicalism, and extremism. People in these states should differ in terms of their attitude towards violence, level of political (in-)tolerance, preference between democratic and non-democratic political systems, beliefs about spreading their ideology, orientation toward ingroup-benefit versus general altruism, and preference for hierarchies. Another issue in radicalization research is that studies are often specific to a particular phenomenon (mainly right-wing extremism and Islamic religious extremism); correspondingly, existing instruments are specific to a particular ideology. In the present study, a measurement instrument was designed with two aims in mind. Firstly, to differentiate between benevolent radicals, malevolent radicals, extremists, and political moderates, using a theory-driven clustering approach. Secondly, to separate the question ‘are you an extremist?’ from the question of ‘of which ideology are you an extremist?’. Therefore, the resulting instrument should be suitable to detect different radical or extremist social movements. The newly developed instrument was validated on a sample of Austrian young adults (aged 17 – 20) via online-survey conducted in May 2021.
Sara Jahnke: Predictors of Political Violence Outcomes Among Young People: A Systematic Review and Meta-Analysis
The present meta-analysis summarizes the international evidence base regarding links between psychologically meaningful risk factors and political violence outcomes among adolescents and young adults. We synthesized 422 cross-sectional effect sizes from 95 samples (67 index publications, 23 countries), using robust variance estimation. The results of seven longitudinal and one intervention study are discussed narratively. We detected significant effects for depression (r = .07, k = 10); empathy (r = -.16, k = 7), aggression (r = .24, k = 10), identification (r = .21, k = 30), relative group deprivation (r = .19, k = 11), realistic threat (r = .30, k = 27), symbolic threat (r = .28, k = 10), negative intergroup emotions (r = .25, k = 9), experiences of discrimination (r = .11, k = 12), dissatisfaction with the police, political actors and institutions (r = .11, k = 32), and negative attitudes towards democracy (r = .17, k = 10). No significant effect was found for self-esteem, intolerance of uncertainty, narcissism, and exposure to intergroup conflict. The reviewed longitudinal and intervention studies mostly confirm these cross-sectional results.
Andreas Beelmann: Entwicklungsorientierte Radikalisierungsprävention: Möglichkeiten, Stand der Forschung und zukünftige Herausforderungen
Im Beitrag wird auf Basis des entwicklungsorientierten Modells der Radikalisierung (Beelmann, 2020) Möglichkeiten einer entsprechenden Radikalisierungsprävention erörtert. Einleitend wird kurz das Radikalisierungsmodell vorgestellt und anschließend unterschiedliche Präventionsprinzipien und -maßnahmen diskutiert. Die Maßnahmenbereiche beziehen sich auf die vier postulierten Proximalprozesse der Radikalisierung (Identitätsprobleme, Vorurteilsstrukturen, extremistische Überzeugungen, Dissozialität), zu denen jeweils die wichtigsten Präventionsansätze vorgestellt und summarisch der Stand der Forschung präsentiert. Abschließend erfolgt eine kurze Diskussion zukünftiger Herausforderungen der Präventionsforschung in diesem Feld.
Vortrag und Panel discussion: Zum Problem von Freiheitsgraden in der forensischen Forschung und Begutachtung (Organisation: Aileen Oeberst und Andreas Mokros)
Wissenschaftler:innen wie Gutachter:innen steht in der Beantwortung ihrer Fragestellungen erheblicher Entscheidungsspielraum (Freiheitsgrade) zur Verfügung. In der Forschung fördert dies selektive und verzerrte Ergebnisse, wie sich im Rahmen der Replikationskrise und daran anschließender Studien bereits gezeigt hat. Auch für die wissenschaftliche Befundlage in der Rechtspsychologie ist somit von potentiell einseitigen und ggf. nicht-robusten (i.e., nicht replizierbaren) Ergebnissen auszugehen – ohne dass dies u.E. bislang ausreichend gewürdigt bzw. reflektiert oder diskutiert wurde. Eine solche Diskussion erscheint jedoch vor dem Hintergrund, dass die rechtspsychologische Forschung auch die Grundlage für die forensische Begutachtung darstellt, nur umso notwendiger. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Entscheidungsspielräume in der forensischen Begutachtung selbst noch erheblicher sind, welches Zweifel an der Zuverlässigkeit und auch an der Gültigkeit von forensischen Gutachten aufwerfen kann. Exemplarisch wird das Ausmaß des Problems anhand von empirischen Befunden und Simulationen aus dem Bereich der aussagepsychologischen und kriminalprognostischen Forschung und Begutachtung illustriert. Freiheitsgrade bestehen etwa hinsichtlich der Auswahl, Gewichtung und Interpretation von Kriterien (Forschung) oder in der Selektion und Bewertung von diagnostischen Indikatoren (Begutachtung). Ein kurzer Ausblick auf den familienrechtlichen Bereich verdeutlicht zusätzlich die übergreifende Bedeutsamkeit des Problems.
Pause 18:00 - 19:00 h
Preisverleihung 19:00 - 20:00 h
Nachwuchsförderpreis der Fachgruppe Rechtspsychologie für Masterarbeit und Dissertation: Vorträge der diesjährigen Presiträger
Social event Ab 20:00 h
Auf unserem Social Event (am 23. September, ab 19 Uhr) können Sie zeigen, was Sie wirklich drauf haben - Quiz-Time! Beweisen Sie, dass Sie ein*e wahre Expert*in der Rechtspsychologie sind und gewinnen Sie einen echten Berliner Überraschungspreis. Für eine optimale Performance empfehlen wir folgenden abendbegleitenden Drink: Der Grapefruit-Gin-Fizz.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr FGRP 2021 Organisationsteam
- 2cl Gin mit 200ml Grapefruitsaft (frisch gepresst) mixen und in ein Glas mit reichlich crushed Eis füllen
- mit 100 Tonic Water auffüllen
- mit Rosmarinzweig und 1 Scheibe Zitrone garnieren
Mit freundlichen Grüßen
Ihr FGRP 2021 Organisationsteam
Freitag 24.09
Keynote: Matthias Gamer
Können wir uns zuverlässig an traumatische Erfahrungen erinnern? 9:00 - 10:00 h
Können wir uns zuverlässig an traumatische Erfahrungen erinnern? 9:00 - 10:00 h
Die Konfrontation mit traumatischen Ereignissen wie etwa Gewalt- oder Sexualverbrechen hat substantielle Einflüsse auf das autonome Nervensystem, die Ausschüttung von Stresshormonen und die Funktion und Struktur des Gehirns. Diese körperlichen Anpassungen beeinflussen auch die Enkodierung und Konsolidierung von Gedächtnisspuren. Auf dieser Basis wurde etwa argumentiert, dass sich Opfer schwerer Verbrechen oft nur unzureichend an Details des Tatablaufs erinnern können. In diesem Vortrag soll ein Überblick über neurobiologische, psychologische und klinische Aspekte des Einflusses von traumatischen Erfahrungen auf das Gedächtnis gegeben werden. Dabei soll insbesondere beleuchtet werden, wie sich unterschiedliche Phasen der körperlichen Stressreaktion auf die Enkodierung, die Konsolidierung und den Abruf von Gedächtnisinhalten auswirken. Diese Erkenntnisse sollen in den Kontext aussagepsychologischer Fragestellungen eingeordnet und praktische Handlungsempfehlungen für die Befragung von Opferzeugen abgeleitet werden.
Pause 10:00 - 10:30 h
Parallel Sessions 5 10:30 - 12:00 h
Spezielle Tätergruppen und Reaktionen auf Delikte
Vortrag fällt aus:
Silvia Gubi-Kelm: Gefangen in der „Ethno-Falle“ – Wahrnehmung eines ethnischen Ungleichgewichts in Inhaftiertenpopulationen und deren Auswirkungen
Silvia Gubi-Kelm: Gefangen in der „Ethno-Falle“ – Wahrnehmung eines ethnischen Ungleichgewichts in Inhaftiertenpopulationen und deren Auswirkungen
Seit der Zuwanderungsbewegung in Deutschland in den Jahren 2014/2015 sind gesellschaftliche Veränderungen festzustellen, die sich insbesondere in der Wahrnehmung der von Migranten ausgehenden Kriminalität manifestieren. In den USA ist der Zusammenhang zwischen sozialen bzw. ethnischen Gruppen und Kriminalität in Bezug auf People of Color ein eingehend untersuchtes Wahrnehmungsphänomen (z. B. Hetey & Eberhardt, 2014). In einer Serie von Studien wurde untersucht, ob die international berichteten Zusammenhänge auf die deutsche Gesellschaft und Migrationslandschaft übertragbar sind und repliziert werden können. Den Probanden wurde ein unterschiedlich stark ausgeprägtes ethnisches Ungleichgewicht zwischen Migranten und Deutschen in der männlichen Gefängnispopulation dargeboten, um Unterschiede bezüglich der Einschätzung von Straftätergruppen und der Bewertung von Strafen zu untersuchen. Zudem wurde der Einfluss von Kriminalitätsfurcht auf die Zusammenhänge zwischen der dargebotenen Disparität und der Bewertung von Strafen ermittelt. Es werden Daten zu diesen Zusammenhängen vorgestellt und die Bedeutung der Befunde im Hinblick auf eine mögliche Konstruktion des Islam als Feindbild sowie des Einflusses von Medien und Politik auf die Kriminalitätswahrnehmung diskutiert.
Stefanie Schmidt: Gewalt im Kontext einer Culture of Honor
Gewalt im Kontext einer Culture of Honor stellt eine besondere Herausforderung für die Kriminalpsychologie dar, weil diese Handlungen mit gängigen Erklärungsansätzen nur unzureichend zu erklären sind. Für eine Erklärung scheint es notwendig, zunächst die Funktionalität einer Culture of Honor innerhalb spezifischer Sozialisationsbedingungen und Kontextfaktoren zu verstehen und die Culture of Honor als kulturelles Mindset zu begreifen, welches tiefgreifend das Erleben und Verhalten beeinflusst. Als Rahmenmodell für eine kultur- und kontextsensitive Erklärung lässt sich das Cultural Agency-Model of Criminal Behavior (CAMCB; Schmidt, Heffernan, & Ward, 2021) heranziehen. Es fokussiert auf die zugrundeliegenden psychologischen Mechanismen zielgerichteten Handelns und differenziert systematisch zwischen universellen Komponenten und deren kulturell sowie individuell gefärbten Ausprägungen. In diesem Beitrag werden die zentralen Prozesse und Bedingungsfaktoren für gewalttätige Handlungen im Kontext einer Culture of Honor anhand des CAMCB auf verschiedenen Ebenen (z.B. Individuum, soziale Interaktion) erläutert. Es werden zudem empirische Befunde (z.B. zum Zusammenhang einer Culture of Honor mit Delinquenz) vorgestellt. Abschließend werden geplante Forschungsvorhaben diskutiert.
Joscha Hausam: Sozialtherapeutische Erreichbarkeit von jungen Straftätern aus familiären Clanstrukturen
Ein in den letzten Jahren zunehmend in der polizeilichen und medialen Aufmerksamkeit stehendes Phänomen sind „Mitglieder ethnisch abgeschotteter Subkulturen“ („Clankriminalität“) als neuere Erscheinungsform organisierter Kriminalität (OK; BKA, 2019). Allgemein wird unter OK eine von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen und Einsatz von Gewalt verstanden. Bislang existiert allerdings keine einheitliche Definition und Operationalisierung von familiären Clanstrukturen, was die Untersuchung des Phänomens erschwert. In einer Stichprobe von jungen Straftätern aus der sozialtherapeutischen Abteilung der Jugendstrafanstalt Berlin (N = 191) versucht der vorliegende Beitrag diese empirische Forschungslücke zu schließen. Es werden zunächst spezifische Sozialisations- und Belastungsfaktoren sowie Karriereverläufe von Jugendlichen und Heranwachsenden aus familiären Clanstrukturen näher beleuchtet. Anschließend setzt sich der Beitrag mit der potenziellen Erreichbarkeit dieser kleinen Tätergruppe durch (sozialtherapeutische) Maßnahmen des Jugendstrafvollzugs auseinander. Hierzu werden neben motivationalen Voraussetzungen, Auffälligkeiten und Veränderungen im Haftverlauf auch das Umfeld und Legalverhalten nach Haftentlassung analysiert. Die zugrundeliegende Operationalisierung und Implikationen für die Behandlungsindikation und -durchführung werden abschließend kritisch diskutiert.
Mathias Twardawski: Why people punish: A theoretical framework
Punishment is ubiquitous. Importantly, not only legal institutions but also private individuals engage in punishment of wrongdoers. Strikingly, such informal sanctioning is shown both by victims of the misbehavior (so-called second-party punishment) and unrelated observers (so-called third-party punishment). Strikingly, people even punish offenders when it is costly for them, contradicting classical models of rational decision-making. Correspondingly, the question why and how people punish has attracted broad attention across a variety of scientific disciplines, including philosophy, biology, sociology, criminology, political science, economics, and psychology. However, this interdisciplinary attention comes at the cost of precision and brevity. That is, there are language barriers between disciplines leading to scholars discussing the same phenomenon but using different labels – or using the same labels but discussing different phenomena. In the present research, we want to transcend language barriers and develop a comprehensive framework on the nature of punishment in humans. Based on strategies typically applied in meta-analytic approaches, we currently scan the full body of research on laypeople’s punishment motives to identify definitions (rather than labels) of punishment motives in humans. We then present these definitions to experts on punishment behavior from different disciplines and ask them to rate the conceptual overlap of the punishment motives presented. With these ratings, we are then able to develop a much-needed model that systematically describes the motivational basis of punishment based (including interrelations between motives). This project is currently ongoing but we are confident to present first results at the conference.
Polizei
Franziska Clemens: Wenn sie glauben, dass du es warst – Einfluss des Tatverdachts auf die Gegenstrategien Unschuldiger
Der Fokus dieser imaginierten Mock-Crime Studie liegt auf der Untersuchung Unschuldiger (haben die Straftat, welche Gegenstand einer Befragung ist, nicht begangen). Spezifisch werden der Einfluss der Rechtmäßigkeit einer am Tatort ausgeführten Sekundärhandlung (rechtmäßig vs. unrechtmäßig) und des kommunizierten Tatverdachts (Verdacht vs. kein Verdacht) auf (a) die geplanten Gegenstrategien Unschuldiger und (b) ihre Bereitschaft potenziell selbstbelastende Informationen preiszugeben, untersucht. Dazu sollten sich die Probanden entweder vorstellen, dass sie an einem Ort waren, um dort eine rechtmäßige Handlung (RH) (n = 64) oder eine unrechtmäßige Handlung (UH) (n = 64) durchzuführen. Die Probanden wurden anschließend informiert, dass an dem Ort eine Straftat begangen wurde (alle Probanden waren bezüglich dieser Straftat unschuldig). Danach wurden die Probanden randomisiert den zwei Verdachtsbedingungen zugeordnet (Vernehmung als potenziell Verdächtiger (Verdacht) vs. Befragung als potenzieller Zeuge (kein Verdacht)). Die Ergebnisse zeigen, dass „Ehrlichkeit“ die am häufigsten berichtete Strategie sowohl unter RH Probanden als auch unter UH Probanden war (92,2% vs. 56,3%). Im Gegensatz dazu wurde die Strategie „Lügen” von keinem der RH Probanden berichtet, jedoch von 35,9% der UH Probanden. In der „kein Verdacht“ Bedingung waren UH Probanden signifikant weniger bereit potenziell belastende Informationen bezüglich ihrer wahren Absichten am Tatort preiszugeben (verschweigen/leugnen) als in der „Verdacht“ Bedingung. Die Daten zeigen, dass die scheinbar entspanntere Situation (kein Verdacht) ausweichendes und täuschendes Verhalten bei unschuldigen Personen, die eine unrechtmäßige Sekundärhandlung am Tatort ausgeführt haben, begünstigt hat. Folglich kann sich für diese Personen in solchen Situationen das Risiko erhöhen, fälschlicherweise als schuldig wahrgenommen werden.
Lena Posch: Zur Bedeutung von Vorannahmen auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenvernehmungen - Ergebnisse eines Experiments mit Kommissaranwärter*innen
In dieser Studie wurde untersucht, inwieweit Vorinformationen einen Einfluss auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage haben können. 20 Studierende der Hochschule in der Akademie der Polizei Hamburg sahen hierbei jeweils zwei unterschiedliche Videos einer inhaltlich ähnlich gelagerten Zeugenaussage, deren Glaubhaftigkeitsgehalt sie beurteilen sollten. Der Kontext wurde manipuliert, indem der Experimentalgruppe vor dem Anschauen einer jeden Vernehmung Informationen bezüglich der vermeintlichen Glaubwürdigkeit der Zeugin mitgeteilt wurden. Die Informationen sollten die Glaubwürdigkeit der Zeugin stärken oder schwächen, sie waren hierbei jedoch genau entgegengesetzt zu der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage. Anschließend beurteilten alle Teilnehmer*innen einzeln die Aussage anhand 24 verschiedener Glaubhaftigkeitsmerkmale zuzüglich des Gesamteindrucks. Hiermit sollte abgebildet werden, inwieweit sich das Phänomen des Confirmation Bias auch bei Kommissaranwärter*innen abzeichnet. Es zeigte sich, dass die Experimental¬gruppe die Glaubhaftigkeit der glaubhaften Aussage signifikant geringer einschätzte als die Kontrollgruppe. Es zeichnete sich der Trend ab, nach dem die Kontrollgruppe die Glaubhaftigkeitsmerkmale in der Aussage im Durchschnitt als stärker vorhanden bewertete. Bei der nicht-glaubhaften Aussage beurteilte die Experimentalgruppe die Glaubhaftigkeitsmerkmale als stärker ausgeprägt als die Kontrollgruppe. Die Ergebnisse waren hier jedoch überwiegend nicht signifikant. Insgesamt unterlagen die Teilnehmer*innen der Experimentalgruppe durch die Instruktionen vermehrt kognitiven Verzerrungen und bewerteten die Aussagen kongruent zu den fälschlichen Vorab-Informationen. Hierbei ließen sie sich stärker von den negativen, diskreditierenden Informationen leiten als von den positiven.
Stefanie Kemme: Alles gelogen oder tatsächlich erlebt? Zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung von Zeugenaussagen durch angehende Kommissaranwärter*innen
Ziel der Untersuchung war herauszufinden, wie gut Polizeistudierende zwischen wahren und erfundenen Aussagen unterscheiden können und inwieweit eine erneute Beurteilung der Zeugenaussage nach genauer Transkription Unterschiede zu der Beurteilung nach dem Ersteindruck aufweist. Hierfür wurden 20 Studierende der Hochschule in der Akademie der Polizei Hamburg rekrutiert und in vier verschiedene Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe führte an einem Versuchstag je zwei Vernehmungen durch. Die dafür eingesetzten zwei Zeuginnen berichteten hierbei entweder von einem tatsächlich erlebten Ereignis oder einem ausgedachten. Die Vernehmungen wurden auditiv aufgezeichnet und ein Glaubhaftigkeitsfragebogen mit 24 Glaubhaftigkeitsmerkmalen und 3 Fragen zu dem Gesamteindruck wurde von jedem Probanden einzeln unmittelbar nach der Vernehmung ausgefüllt. Später wurde mithilfe der Audiodateien eine Transkription angefertigt und basierend auf dieser beurteilte jeder Teilnehmer die Aussagen mithilfe des Glaubhaftigkeitsfragebogens erneut. Nach der Transkription waren die Unterschiede zwischen den wahren und unwahren Geschichten deutlich ausgeprägter als unmittelbar nach der Vernehmung. Besonders stark äußerten sich die Unterschiede bei den Allgemeinen Qualitätsmerkmalen und der Beurteilung des Gesamteindruckes. Bis auf wenige Ausnahmen beurteilten die Beamten die Glaubhaftigkeitsmerkmale bei den wahren Geschichten als stärker vorhanden als bei den unwahren. Insgesamt zeichnete sich also im Durchschnitt eine deutliche Verbesserung in der Richtigkeit der Glaubhaftigkeitsbeurteilung der wahren und unwahren Geschichten nach der Transkription im Vergleich zum unmittelbaren ersten Eindruck nach der Vernehmung ab.
Daniela Gutschmidt: Stress und Gesundheit im Polizeiberuf
Der Polizeiberuf gilt als eine sehr erfüllende, aber auch als besonders belastende Tätigkeit. Nicht zuletzt aus diesem Grund werden mittlerweile alle deutschen Polizeien durch PsychologInnen unterstützt. Die Polizei weist dabei einige Besonderheiten auf, die für die Arbeit von PolizeipsychologInnen relevant sind. Dazu zählen neben den potentiell traumatischen Einsätzen und dem Zugang zu Schusswaffen insbesondere die spezifische Organisationskultur der Polizei. Um einen Überblick über diese Besonderheiten zu vermitteln, wird zunächst ein theoretisches Rahmenmodell zu Stress und Gesundheit im Polizeiberuf vorgestellt. Es basiert auf den in der Psychologie etablierten Vulnerabilitäts-Stress-Modellen sowie biopsychosozialen Ansätzen, und berücksichtigt dabei zahlreiche Studien aus dem Polizeibereich. Im Anschluss werden die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung an 152 erfahrenen PolizeibeamtInnen präsentiert. Hierbei wurden Stressoren, Copingstrategien und kulturelle Werte in verschiedenen polizeilichen Einheiten (z.B. Dienst- oder Ermittlungsgruppen) erhoben. Es zeigte sich, dass vor allem den Stressoren, die aus der Organisation heraus entstehen (z.B. Personalmangel, Bürokratie, Personalbeurteilungen), eine hohe Bedeutung zukommt. Die Berechnung multipler Regressionsanalysen ergab, dass eine konservativ-männliche Kultur einen Risikofaktor in Bezug auf maladaptives Coping (z.B. Alkoholkonsum, Verdrängung) darstellt, Gewissenhaftigkeitskultur hingegen einen Schutzfaktor. Bei einer stark ausgeprägten Teamkultur ist soziales Coping generell häufiger. Methodische Einschränkungen der empirischen Studie (z.B. unklare Richtung der Kausalität) werden ebenso diskutiert wie die Relevanz der Befunde und des Rahmenmodells für die Arbeit in und mit der Polizei.
Symposium: Menschen mit pädohebephilen Interessen (Organisation: Alexander Schmidt)
Alexander F. Schmidt: Einstellungen und Erwartungen von ambulant arbeitenden Therapeut*innen zur Behandlung von Personen mit pädohebephilen Interessen
Menschen mit pädohebephilen Interessen (MPHI) aus der Allgemeinbevölkerung weisen eine erhöhte psychische Belastung im Vergleich zu ihren Mitbürger*innen auf. Zusätzlich nehmen MPHI eine ausgeprägte Stigmatisierung ihrer sexuellen Interessen an Kindern und Jugendlichen durch die Öffentlichkeit wahr. Gleichzeitig berichten sie von großen Schwierigkeiten, geeignete psychotherapeutische Behandlungsangebote zu finden, wobei MPHI auch befürchten von Psychotherapeut*innen stigmatisiert zu werden. Bislang liegen nur wenige erste Daten zu Einstellungen und Erwartungen von Psychotherapeut*innen zur Behandlung von MPHI vor. Vorgestellt werden Daten aus einer umfangreichen Onlinebefragung von 437 ambulant arbeitenden Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen aus der Schweiz, die im Rahmen eines Projekts zu sekundärpräventiven Behandlungsangeboten mit sexuellen Interessen an Minderjährigen und deren Wirkung in der Schweiz erhoben wurden. Erfasst wurden stigmatisierende Einstellungen gegenüber dieser Klientel sowie Erwartungen und Befürchtungen in Bezug auf die Behandlung von MPHI. Es zeigte sich, eine generell geringe Behandlungsbereitschaft und, dass den befragten Psychotherapeut*innen spezifische Behandlungskenntnisse fehlen. Multivariate Zusammenhänge der untersuchten Variablen mit Stigmatisierungstendenzen, Behandlungsbereitschaft, Behandlungsvorbehalten, und antizipierten Behandlungsproblemen werden vorgestellt und bezüglich ihrer Implikationen für die Behandlungssituation von MPHI in der psychotherapeutischen Regelversorgung diskutiert.
Till Amelung: "Ich will nicht, dass das zu mir gehört" - Stigmatisierung und internalisiertes Stigma im Selbstbericht nicht übergriffiger Männer mit Pädophilie
Unter den vielen Spielarten menschlicher Sexualität zählt Pädophilie zu den am stärksten tabuisierten. Hierzu trägt wesentlich die mangelnde Differenzierung zwischen sexuellem Kindesmissbrauch und der sexuellen Ansprechbarkeit für Kinder bei. So ist Pädophilie zwar ein empirisch gut belegter Risikofaktor für wiederholten sexuellen Kindesmissbrauch, jedoch weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Entsprechend gibt es eine Population von Männern mit Pädophilie, die noch nie sexuellen Kindesmissbrauch begangen haben noch sexuelle Missbrauchsabbildungen von Kindern genutzt und auch bekunden, dies nicht vorzuhaben – in der Literatur „Non-Offender“ genannt. Um die möglichen therapeutischen Bedürfnisse dieser Population im professionellen Hilfesystem besser zu verstehen, haben wir 16 Erstgespräche mit Non-Offendern einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring unterzogen. Die aus dieser Analyse abgeleiteten zehn Hauptkategorien vorgebrachter Themen werden vorgestellt. Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf mit externaler und internalisierter Stigmatisierung zusammenhängende Themenbereiche gelegt. Konsequenzen für Forschung und Therapie mit Non-Offendern werden diskutiert.
Robert J. B. Lehmann: Bilder, Sexpuppen, und chemische Kastration - Einstellungen gegenüber nicht straffälligen Menschen mit Pädophilie und ihren Umgang mit ihren sexuellen Interessen
Zur Verbesserung des Verständnisses der Einflussfaktoren auf die Stigmatisierung von Pädophilie und des sexuellen Interesses an Kindern untersucht diese Studie, inwiefern sich verschiedene Wege des Umgangs mit diesem sexuellen Interesse die Einstellungen gegenüber von Menschen mit Pädophilie, welche keine Straftaten begehen, beeinflusst. Eine Stichprobe von N = 143 TeilnehmerInnen las drei Vignetten, welche Personen beschrieben, die entweder nicht-sexualisierte Bilder (Indikativbilder), Kindersexpuppen, oder Medikamente zur Reduzierung ihres sexuellen Verlangens benutzten, um mit ihrem pädophilen Interessen umzugehen. Auch wenn diese Optionen des Umgangs mit sexuellem Interesse an Kindern kontrovers diskutiert werden, handelte es sich hierbei bis vor kurzem in Deutschland (vgl. aktueller Gesetzesentwurf vom 24.03.2021: § 184l Inverkehrbringen, Erwerb und Besitz von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild“) um legale Optionen. Im Anschluss wurden die TeilnehmerInnen nach ihren Einstellungen gegenüber diesen Personen auf kognitiver-, affektiver- und Verhaltensebene gefragt. Zwischen den Bedingungen Indikativbilder und Kindersexpuppe wurden keine signifikanten Unterschiede auf kognitiver (außer Gefährlichkeit), affektiver und Verhaltensebene gefunden. Beide riefen mehr stigmatisierende Einstellungen als die Bedingungen der Medikation hervor. Die Ergebnisse bestätigen vorherige Befunden zur Stigmatisierung von Pädophilie, welche nur (leicht) abgeschwächt wurden, wenn die Betroffenen freiwillig einer medizinischen Behandlung zur Reduzierung des sexuellen Verlangens zustimmten.
Sara Jahnke: What factors are associated with treatment motivation and disclosure in treatment? A community survey among pedohebephilic individuals
Pedohebephilic individuals (PI) often experience stigma-related stress and mental health problems. Some also report to be in need of treatment to help them live offense-free. PI are often skeptical about seeking treatment, or choose not disclose their sexual attraction to children to their therapist. In this pre-registered study, we use a minority stress framework to explain PI’s reactance to seek treatment and their experiences in treatment. Specifically, we plan to investigate how potential treatment barriers (lack of knowledge about therapy, expected maltreatment, internalized and anticipated stigma) interact with mental health and treatment motivation. Furthermore, we will test the links between disclosure in treatment and treatment outcomes. Participants completed a comprehensive online survey tapping into treatment outcomes, attitudes towards seeking help, internalized stigmatization, fear of detection/rejection, mental health, and disclosure-related expectations. So far, we have collected cross-sectional data from 282 English-speaking users of forums for people with a sexual attraction to children. With the exception of anticipated stigma, preliminary analyses show significant links between all studied treatment barriers, reduced mental health, and treatment motivation. Among the participants with prior treatment experiences, 71% have disclosed their attraction to their last therapist. Disclosure was not related to self-rated outcomes of therapy but was positively linked to the strength of the therapeutic alliance. Positive effects of disclosure were related to better self-reported treatment outcomes. The results of this study will inform an online peer and expert-led psychoeducation intervention to increase treatment motivation and reduce internalized stigma among PI.
Pause 12:00 - 12:30 h
Parallel Sessions 6 12:30 - 13:30 h
Radikalisierung II
Laura Sophia Sterba: Ungerechtigkeitssensibilität als Risikofaktor für Radikalisierung
Subjektiv erlebte Ungerechtigkeit lässt sich als Bestandteil in verschiedenen Erklärungsmodelle von Radikalisierung und Extremismus wiederfinden (z.B. Moghaddam, 2005; Slootman & Tillie, 2006). Die jeweilige Sensibilität, etwas als ungerecht zu empfinden, kann aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommen werden; so nehmen Schmitt und Kolleg:innen (2010) beispielsweise eine Unterteilung in die Opfer-, Täter-, Beobachter- und Nutznießerperspektive vor. Es wird angenommen, dass sich Menschen in den jeweiligen Perspektiven intra- und interindividuell unterscheiden. Je nach Sensibilität gehen folglich unterschiedliche kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Reaktionen einher, die auch soziale Interaktionen (z.B. Vertrauen und Misstrauen gegenüber anderen) und politische Einstellungen (z.B. Vertrauen in die eigene politische Wirksamkeit, Wahlverhalten) betreffen können. Der Beitrag untersucht die Opfersensibilität als potentiellen Risikofaktor für Radikalisierung und Extremismus anhand einer Stichprobe von verurteilten fremdenfeindlichen Straftätern, die im Rahmen einer BMI-geförderten Forschungsgruppe befragt wurden. Betrachtet wurde der Zusammenhang von Opfersensibilität und identitäts-, vorurteils-, ideologie- und gewaltbezogenen Variablen, die sich in der bisherigen Radikalisierungsforschung als zentrale Einflussfaktoren bestätigt haben. Es zeigte sich, dass eine erhöhte Opfersensibilität einen positiven Zusammenhang zu genannten Radikalisierungsfaktoren aufwies und entsprechend als potentieller Risikofaktor für Extremismus betrachtet werden kann. In zukünftigen Untersuchungen sollten die Ungerechtigkeitssensibilität mit ihren einzelnen Facetten einbezogen werden, um mögliche differentielle Wirkzusammenhänge zu explorieren.
Jonas Krüppel: Verschwörungsglauben und Einstellungen gegenüber Fremdgruppen: Eine experimentelle Studie
Neben anderen Formen extremer politischer Einstellungen ist seit Beginn der Covid-19-Pandemie auch der Verschwörungsglaube ins Zentrum gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Debatten gerückt. Fragebogenstudien deuten dabei auf Zusammenhänge zwischen Verschwörungsglauben und verschiedenen Formen negativer Einstellungen gegenüber Fremdgruppen hin. Weniger häufig untersucht ist die Beziehung zwischen Verschwörungsglauben und impliziten Einstellungen, darunter etwa implizite Stereotype. In dieser Online-Studie sollten die Zusammenhänge zwischen Verschwörungsglauben, impliziten und expliziten Stereotypen sowie dem Erleben von Bedrohung durch Asiat*innen genauer exploriert werden. Zusätzlich sollte geprüft werden, ob eine einmalige Konfrontation mit Verschwörungstheorie-bezogenen Inhalten (konkret: einem Artikel über die Stadt Wuhan) zu einer Erhöhung impliziter Stereotype gegenüber Asiat*innen führt. In einer Stichprobe von 146 Personen (69% Frauen) zeigten sich mittelgradige positive Korrelationen zwischen Verschwörungsglauben und expliziten Stereotypen sowie dem Erleben von Bedrohung durch Asiat*innen. Implizite Stereotype gegenüber Asiat*innen waren weder mit Verschwörungsglauben korreliert noch führte die experimentelle Manipulation zu einer Erhöhung impliziter Stereotype. Im Rahmen des Vortrags werden die Ergebnisse mit Blick auf Erklärungsmodelle für politischen Extremismus, die Güte der experimentellen Stimuli und die Stabilität impliziter Maße diskutiert.
Laura Tampe: Entdeckungsmöglichkeiten islamistischer Täter durch Leaking im Vorfeld einer Tat
Leaking umfasst direkte Ankündigungen von schweren Gewalttaten sowie themenspezifisches Verhalten, welches auf eine Tatplanung hindeuten könnte. Bis dato wurde die Möglichkeit, wie Leaking im Vorfeld einer terroristischen Tat am besten zu ermitteln ist, kaum beforscht. Die aktuelle Studie untersucht mittels Aktenanalyse die häufigsten Zeugen von Leaking, das Meldeverhalten sowie die Erfassung von Leaking durch die Polizei. Vorläufige Ergebnisse von 134 Leakings von 23 islamistischen Tätern zeigten, dass diese Leakings meist in persönlichen Gesprächen (47%) oder per Chat (23%) äußerten. Am häufigsten stammten die Zeugen aus dem direkten Umfeld des Täters (Freunde: 25%, Mitbewohner: 12%) und/oder waren ebenfalls Mitglieder der extremistischen Szene (11%). Nur 13% der Leakings wurden der Polizei gemeldet, nur 11% noch vor der Tat/Festnahme durch die Sicherheitsbehörden ermittelt. Durch die Meldung und Ermittlung von Leakings waren insgesamt 11 Täter den Sicherheitsbehörden vor einer Tat bzw. während der Tatplanung bekannt und infolgedessen konnten die Sicherheitsbehörden 5 Taten durch 9 Täter verhindern. Da Leaking ein wichtiges Warnsignal darstellt, werden Maßnahmen benötigt, die eine zuverlässige Erfassung von Leaking durch die Sicherheitsbehörden und somit eine adäquatere Risikoeinschätzung ermöglichen. Konkrete Handlungsempfehlungen zur Erhöhung der Meldebereitschaft (z.B. durch Aufklärung der Gesellschaft) und Ermittlung von Leaking (z.B. durch Überwachung von Chatverläufen) sollen unter besonderer Berücksichtigung ethischer und rechtlicher Fragen sowie praktischer Umsetzbarkeit diskutiert werden.
Aussagepsychologie II
Siegfried Ludwig Sporer: Meta-analyses of Field Studies on Criteria-Based Content Analysis: A Critical Appraisal and New Data
Meta-analyses of Field Studies on Criteria-Based Content Analysis: A Critical Appraisal and New Data Siegfried Ludwig Sporer, Valerie Hauch, Jaume Masip, Iris Blandón-Gitlin and Natalie Martschuk Since the 1980s, over a hundred studies have evaluated the validity of Criteria-based Content Analysis (CBCA) to test whether reports of self-experienced events contain more and qualitatively different content cues than reports of fabricated events. Several meta-analyses both on CBCA summary scores and/or specific CBCA criteria have been conducted, which provide some support for the validity of these criteria across a broad range of moderator variables. Surprisingly, the databases analyzed in these meta-analyses contained only 6 (or 8?) field studies, with a wide range of effect sizes. For over half a decade, we have been gathering and coding over a 100 published and unpublished studies on CBCA criteria. Authors of field studies listed (among others) the following criteria to establish "ground truth", that is, which evidence they considered to classify a given account as "confirmed" or "disconfirmed": (1) medical, physical, or scientific evidence (ideally DNA evidence); (2) a confession by the accused; (3) one or several (serial) victim statements; (4) corroborating statements by other witnesses; (5) recantations; (6) admitting coaching by the victim; (7) evidence of psychopathy or other psychiatric diagnoses or psychological disorders (e.g., borderline personality; depression); (8) a guilty or not guilty verdict by a criminal court of law. Depending on which criteria one considers acceptable, different numbers of studies should be included in or excluded from meta-analyses. We demonstrate that the effect sizes for the validity of both individual CBCA criteria and summary scores vary widely as a function of these inclusion/exclusion criteria.
Kristina Suchotzki: Tatwissensdetektion in Sekundenschnelle? Validität des reaktionszeitbasierten Tatwissenstests mit und ohne Reaktionszeitdeadline
Das Ziel bei der Detektion von Tatwissen ist es zu bestimmen, ob eine verdächtige Person Kenntnis inkriminierender Verbrechensdetails besitzt. Traditionell wird der Tatwissenstest in Kombination mit der Erhebung psychophysiologischer Indizes angewandt und Meta-Analysen zeigen große Effekte in der Unterscheidung zwischen Personen mit und ohne Tatwissen. Doch auch die Verwendung von Reaktionszeit als abhängiges Maß im Tatwissenstest hat sich in Primärstudien und einer Meta-Analyse als vielversprechend erwiesen. In diesem Beitrag soll die Validität des reaktionszeitbasierten Tatwissenstests mit und ohne Reaktionszeitdeadline (i.e. ein zeitlicher Rahmen in dem Probanden ihre Reaktionen abgeben mussten) verglichen werden. In einer ersten Serie von drei Studien (n = 82, n = 54, und n = 168) zeigte sich, dass eine Reaktionszeitdeadline von 800 Millisekunden die Effektivität strategischer Manipulationsversuche durch geschulte Versuchspersonen reduzierte, allerdings auch die Testvalidität für ungeschulten Versuchspersonen reduzierte. Eine neue (preregistrierte) online Studie (n = 242) mit leicht abgeändertem Versuchsdesign und anderen Stimuli konnte dieses Ergebnis nicht replizieren, sondern zeigte in Gegenteil eine erhöhte Validität des Tatwissenstests unter Verwendung von Reaktionszeitdeadlines von 800 und 1500 Millisekunden. Mögliche Erklärungen für diese Diskrepanz werden diskutiert und in weiteren Studien untersucht.
Saskia Johannsen: Experimentelle Bedingungen der Performanzvariation bei Ohrenzeugen: Eine Meta-Analyse
Die Aussage von Ohrenzeugen ist bei Straftaten, die in der Dunkelheit, maskiert oder über das Telefon verübt werden von besonderer Bedeutung. Faktoren, die die Leistung von Ohrenzeugen beeinflussen, wurden bereits in einer Vielzahl experimenteller Studien untersucht. In der vorliegenden Meta-Analyse wurden die unterschiedlichen Merkmale der Studiendesgins und der Stichproben von (Laien-) Ohrenzeugen von insgesamt 33 Artikeln mit 49 experimentellen Studien untersucht. Basierend auf den gefundenen Primärstudien wurden a-priori Moderatoren identifiziert, die die Leistung von Ohrenzeugen moderieren. Dabei konnten die Stimulus-Art und die Präsentationsdauer, das Intervall zwischen Exposition und Abruf, die Bekanntheit der Sprache und auch das Geschlecht als Moderatoren in die Meta-Analyse aufgenommen werden. Auf dieser Grundlage wurde eine barebones und eine artefakt-korrigierte Metaanalyse für die fünf Moderatoren durchgeführt. Für die Sub-Moderatoren bimodale Stimuli und konkrete Stimuli des Moderators Stimulus-Art zeigte sich ein substantielles Verhältnis der Populationseffektstärke und der Standardabweichung der Populationseffektstärke (d.h. eine bessere Leistung bei bimodalen und konkreten Stimuli). Die Ergebnisse zeigen heterogene Ergebnisse vor allem für den Moderator Intervall zwischen Exposition und Abruf, den Bedarf weiterer Studien an Ohrenzeugen und eine a-priori Planung zukünftiger Studien an experimentellen Designs und Stichprobengrößen.
Tagungsabschluss 13:30 - 13:45 h